Ex-Skispringer Lukas Müller: "Ich bin ein glücklicher Mensch"
Der 13. Januar 2016 veränderte das Leben des österreichischen Skispringers Lukas Müller für immer. Als Vorspringer der Skiflug-WM in Bad Mitterndorf ging Müller über den Backen, als er in der Luft mit dem linken Fuß aus dem Schuh rutschte. Der Junioren-Weltmeister von 2009 krachte mit dem Rücken auf den Boden, brach sich den sechsten und siebten Halswirbel und ist seitdem inkomplett querschnittsgelähmt.
AZ: Herr Müller, wie verfolgen Sie die Vierschanzentournee, sitzen Sie gebannt vor dem Bildschirm oder schauen Sie sich Skispringen lieber gar nicht mehr an?
LUKAS MÜLLER: Natürlich fiebere ich mit und drücke meinen alten Weggefährten die Daumen, vor allem Stefan Kraft und Michi Hayböck. Ich bin mit den beiden am Skigymnasium Stams groß geworden. Auch die anderen ÖSV-Springer treffe ich häufig am Trainingsstützpunkt in Salzburg. Nur dass die Burschen dann Krafttraining machen und ich meine Physiotherapie.
Können Sie sich noch genau an den Unfall erinnern oder ist der Moment aus Ihrem Bewusstsein gelöscht?
Das alles ist noch sehr präsent und gerade rund um den Jahrestag sind die Erinnerungen noch intensiver. Das ist nun mal ein großer Teil meiner Lebensgeschichte, an dem ich nichts mehr ändern kann. Vielmehr denke ich mir immer, so brutal und ungut das war, so viel Lehrreiches hat dieser Tag doch auch mit sich gebracht.
Lukas Müller: "Der Unfall ist noch sehr präsent"
Zum Beispiel?
Dass man viel mehr kleine Dinge zu schätzen lernt, über die du als gesunder Mensch nicht nachdenkst. Etwa wenn ich mich ein, zwei Minuten auf den Füßen halten kann, ohne dass es mich umhaut. Das ist schon ein Erfolg. Ich kann eh nicht anders als mich mit der Situation abfinden, nach dem derzeitigen Stand der Medizin ist die Lähmung permanent. Würde ich mich nicht damit abfinden, würde sich daran nichts ändern. Je öfter und je nüchterner ich darüber spreche, desto besser kann ich damit umgehen. Darüber zu reden, hat sich sicher positiv ausgewirkt auf meine Entwicklung.
Wussten Sie direkt nach dem Sturz, wie schlimm es war?
Ja. Ich hatte mich bis dahin nie mit Querschnitt beschäftigt, wusste aber gleich, das geht in diese Richtung. Nach dem Aufschlag war ich mir zu 98 Prozent sicher, dass ich gelähmt sein werde. Als ich unten im Auslauf der Schanze lag und ich mich auf den Bauch drehen wollte, aber nicht konnte, zu 99 Prozent. Da wusste ich, okay, passt, jetzt musst du auf die Sanitäter warten.

Sie haben Ihre Beine nicht mehr gespürt?
Doch, gespürt habe ich schon noch etwas, nur bewegen konnte ich sie nicht mehr. Das war dann ganz schön grausig.
Lukas Müller: "Ich war zu 98 Prozent sicher, dass ich gelähmt sein werde"
Die Diagnose war eine inkomplette Querschnittslähmung. Können Sie kurz den Unterschied zu einer vollständigen Lähmung beschreiben?
Eine Lähmung definiert sich aus dem Grad der kaputten Rückenmarksbahnen: Wenn zwischen dem Kreuzbein am unteren Ende der Wirbelsäule und dem Gehirn noch eine Reizleitung vorhanden ist, wenn Signale für Nerven und Muskelkontraktionen ausgetauscht werden können, ist sie inkomplett. Wenn die Bahnen total durchtrennt sind, komplett. Dass ich ziemliches Glück hatte, wurde mir in der Reha bewusst, so vier Monate nach meinem Sturz, wo ich im Wasser das erste Mal wenige Schritte gehen konnte. Das war ein unfassbar geiles Gefühl.
Wie sehr sind Sie im Alltag auf den Rollstuhl angewiesen?
Ohne geht gar nicht. Nicht weil ich es so will, sondern weil es praktischer ist, da bin ich viel wendiger und schneller. Auf den Beinen bin ich sehr fragil. Manchmal stehe ich beim Zähneputzen zwei Minuten, in der Dusche oder bei der Therapie.
Welche Fortschritte Sie machten, konnte man sehen, als Sie eine Bergtour machten.
Bergtour, gut, es waren vielleicht 200 Höhenmeter und die Strecke ein Kilometer. Ich wollte wissen, wie gut ich auf Krücken unterwegs sein kann, und als eine Journalistin fragte, ob sie das filmen könnte, dachte ich mir: Dann musst du dich eben noch mehr zusammenreißen. Ich habe etwa eine Stunde gebraucht, und damit auch nicht länger als die Touristen, denen wir begegnet sind. Am Gipfel spürte ich dann eine große Freude, weil ich wusste, diese Tour war einfach das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit.
Kam es mehr auf die Koordination zwischen Armen, Krücken, Beinen? Oder doch mehr auf den Kopf?
Der Kopf spielt eine unglaublich große Rolle. Es gibt den abgedroschenen Spruch vom Glasl, das halb voll ist oder halb leer. Ich sehe es immer halb voll. Wenn man lernt, Dinge eher positiv als negativ zu benennen, konditioniert man sich darauf, dass es trotz aller Schwierigkeiten doch nicht alles so schlecht ist. Das wiederum erspart einem viel inneren und manchmal kaum merkbaren Stress.
Stress kostet Kraft. Und die brauchst du für andere Dinge wie meine Therapie. Natürlich habe auch ich Tage, an denen ich den Rollstuhl am liebsten aus dem Fenster schmeißen würde, weil er mich nervt. Nur sind es eben drei, vier Tage im Jahr, vielleicht fünf. Wären es drei, vier, fünf Monate im Jahr, hätte ich ein großes Problem. Dann würde mich der Strudel nach unten ziehen. Lieber gehe ich die Wendeltreppe nach oben. Die Richtung gefällt mir besser.
Lukas Müller: "Meine Kraft brauche ich für meine Therapie"
Machen Sie sich Hoffnungen, dank medizinischer Fortschritte eines Tages wieder laufen zu können?
Thomas Geierspichler, der mehrmalige Rennrollstuhl-Weltmeister, hat mal gesagt, dass man sich ruhig mal unrealistische Ziele setzen soll. Die Realität kommt so oder so. Mag sein, dass es irgendwann Möglichkeiten gibt, daher setze ich mich sehr für die Stiftung "Wings for Life" ein, die mit ihren Spenden und Aktionen enorm viel in die Rückenmarksforschung investiert.
Da rühre ich gerne die Werbetrommel für den "Wings for Life World Run" am 9. Mai 2021, dessen Erlöse zu 100 Prozent in die Rückenmarksforschung zur Heilung Querschnittsgelähmter fließen. Im Moment erfreue ich mich aber an den kleinen Schritten. Beispielsweise, dass ich kürzlich über eine Slackline balanciert bin, links und rechts mit zwei Seilen auf Kopfhöhe zum Festhalten. Ich hätte nie gedacht, das je wieder zu können.
Beruflich sind Sie Beauftragter für Barrierefreiheit für Ihren ehemaligen Sponsor, selbstständiger Vermögensberater und haben nebenbei ein Studium im Sportrecht begonnen. Klingt nach viel Arbeit.
Ist es auch, es macht mir aber auch viel Spaß. Mir war es seit meinem Unfall extrem wichtig, dass ich geistig fit bleibe, schließlich ist nur mein Rücken kaputt, nicht mein Kopf. Ich möchte mich weiterentwickeln und nicht dauernd meine Situation überdenken, damit würde ich stagnieren und käme nicht vom Fleck. Außerdem habe ich das Riesenglück, in Österreich zu leben, das ist wie ein Sechser im Lotto. So wie mich das Land nach dem Unfall aufgefangen hat, da möchte ich etwas zurückgeben.
Dabei gab es ja bis 2019 einen Rechtsstreit mit dem Österreichischen Skiverband, der Ihren Sturz als Freizeitunfall kategorisiert hatte. Eine Einstufung, die massive Auswirkungen auf Ihre finanzielle Absicherung gehabt hätte. Erst in letzter Instanz bekamen Sie recht, als das Gericht doch einen Arbeitsunfall feststellte.
Ja, das war ganz wichtig, da ich nun bis ans Lebensende abgesichert bin und Anspruch auf alle gesetzlichen Leistungen der Vollversicherung habe, also Kranken-, Pflege-, Unfall-, Arbeitslosenversicherung. Aber es ging mir nicht nur um mich. Ich wollte einen Präzedenzfall schaffen. Glücklicherweise ist es so, dass nun alle Vorspringer in Österreich bei der Sozialversicherung angemeldet werden müssen und damit in einem Angestelltenverhältnis sind.
Gab es denn jemals eine klärende Aussprache mit den Verantwortlichen des ÖSV?
Nie. Mich hat vielmehr erstaunt, dass der Verband die Versicherungssummen öffentlich machte, die einerseits teils falsch waren, andererseits nur dazu dienten, Neid zu schüren. Das war ein starkes Stück. Und das von einem Verband, der sich immer so sehr auf die Fahnen schreibt, wie sehr er für seine Sportler da ist. Das war schon ein gewisser Widerspruch. Aber gut, die damals handelnden Personen sind 79 und 75 Jahre alt. . .
. . .Sie meinen Präsident Peter Schröcksnadel und Ex-Generalsekretär Klaus Leistner.
Richtig. Da ist so viel an persönlichen Veränderungen und Entwicklungen nicht mehr zu erwarten. Aber gut, Hauptsache, es gibt nun klare Rechtssicherheit für alle Vorspringer.
Lukas Müller: "Verlust an menschlicher Nähe wegen Corona ist bedrückend"
Wie haben Sie die Corona-Pandemie erlebt, mussten Sie besonders aufpassen?
Formell bin ich tatsächlich in der Risikogruppe, das liegt aber vor allem an Lähmungen in meinem Brustbereich, wo ich keine Temperatur mehr spüre, die Wundheilung schlecht ist, die Atemhilfsmuskeln nicht mehr funktionieren. An sich habe ich das Jahr gut überstanden, ich weiß ja seit meinen fünf Monaten auf stationärer Reha, wie es sich anfühlt, "eingesperrt" zu sein.
Allerdings habe auch ich gemerkt, wie unglaublich gut nach sechs, sieben Wochen Lockdown die erste Umarmung tat. Da fiel mir dann erst auf, wie bedrückend der Verlust an menschlicher und körperlicher Nähe ist. Insgesamt war es heftig, als innerhalb einer Woche etwas passiert ist, was sich nie jemand vorstellen konnte. So wie bei mir selbst damals. Nur hat es da eben keine Woche, sondern nur eine Sekunde gedauert.
Ihre Wünsche für 2021?
Dass die Pandemie bald vorbei ist. Und dass die Gesellschaft mit der Erkenntnis rausgeht, dass man gewisse Dinge wieder mehr schätzt. Wie eine Umarmung. Ich bezeichne mich selbst als glücklichen Menschen, und daher hoffe ich, dass sich ein generelles Glücksgefühl durch alle Gesellschaftsschichten breit macht. Dass man das Leben positiver und bewusster wahrnimmt. Dass wir uns alle mehr ein Lächeln schenken. Lächeln ist sehr ansteckend, letztlich ist Lächeln wie ein Virus. Nur ein sehr schöner.
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