Interview

"Es braucht wahrscheinlich einen großen Knall": Warum ein Olympia-Debakel dem deutschen Sport helfen könnte

Der Kanu-Olympiasieger Ronald Rauhe führt im Interview mit der AZ die Diskussion über den Wert und die Probleme des deutschen Sports. Ein großer Knall in Paris 2024 wäre dafür möglicherweise hilfreich.
von  Ruben Stark
Max Rendschmidt, Ronald Rauhe, Tom Liebscher und Max Lemke nach ihrem Olympia-Triumph 2021 in Tokio im Kajak-Vierer über 500 Meter.
Max Rendschmidt, Ronald Rauhe, Tom Liebscher und Max Lemke nach ihrem Olympia-Triumph 2021 in Tokio im Kajak-Vierer über 500 Meter. © imago images/Sven Simon

AZ: Herr Rauhe, Sie beschäftigen sich intensiv mit dem deutschen Sportsystem, dessen Struktur doch arg in der Diskussion steht. Frei heraus gefragt: Was wäre langfristig eigentlich besser für den deutschen Sport, ein richtiger Crash jetzt in Paris bei den Olympischen Sommerspielen oder schöne tolle Erfolge?
RONALD RAUHE: Da treffen Sie natürlich zwei Herzen bei mir, da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Als Sportler und Athlet, der seinen Kollegen nur das Beste wünscht, tue ich mich schwer damit, zu sagen: Deutschland braucht einen Crash. Weil ich will, dass alle erfolgreich sind. Auf der anderen Seite merke ich, weil ich an diesen Fronten kämpfe, dass es wahrscheinlich einen großen Knall braucht, damit man das Gehör findet, um etwas zu ändern. Nur mit einem Crash wachen die Leute mal auf und merken, dass sie etwas tun müssen im deutschen Sport. Nicht nur im Leistungssport, sondern generell. Der Sport braucht in der Gesellschaft einen anderen Stellenwert. Wir brauchen den Sport auch, um bestimmte Werte zu vermitteln. Aber das kommt viel zu kurz - und wird viel zu wenig wertgeschätzt.

Ronald Rauhe: "Irgendwann haben wir niemanden mehr, der diese Brücke bauen kann zum Sport"

Sie sprachen den Stellenwert des Sports in der Gesellschaft an: Sehen Sie das als das grundlegende Problem - bei allen Detailfragen, die es sonst zu diskutieren und zu bearbeiten gilt?
Das ist ein Riesenproblem. Ich werde oft missverstanden, weil ich als Leistungssportler gesehen werde, dass es mir rein um den Leistungssport geht, das ist aber überhaupt nicht so. Ich sehe da auch mehrere versteckte Dinge wie die Wertevermittlung, die gar nicht gesehen werden - auch von der Politik nicht. Klar wird immer drüber geredet, aber es passiert nix. Es geht auf verschiedensten Ebenen um das, was Sport leisten kann. Aktuelles Thema: Werte der Demokratie. Wo lernt man solche Dinge besser als in den kleinen Vereinen? Dort mal angefangen, da sind wir ganz weit weg von dem Sport, wo es um Medaillen geht.

Was sind Probleme an der Basis?
Es geht zum Beispiel um die Stärkung des Ehrenamtes. Ich lerne gerade am eigenen Leib, wie schwierig es ist, überhaupt noch Übungsleiter zu finden, weil die mit Füßen getreten werden. Und es sind eh schon meistens nur noch Eltern von Kindern, die sich über Generationen für den Sport begeistern. Es werden immer weniger, irgendwann haben wir niemanden mehr, der überhaupt diese Brücke bauen kann zum Sport. Man könnte einen Punkteplan machen, woran wir arbeiten müssen, aber erstmal muss man die Probleme einfach kennen. Und da fehlt mir das Rückgrat.

Ronald Rauhe: "Wer Medaillen für Deutschland holen will, geht ein hohes Maß an Risiko ein"

Was ist ein Kernproblem des Leistungssports aus Ihrer Sicht?
Was ich als Athlet gar nicht so wahrgenommen habe, weil man es ein bisschen ausblendet, aber es ist leider ein sehr großes Risiko, sich für den Leistungssport zu entscheiden. Wir haben keinen Fallschirm dafür, was nach der Karriere passiert. Klar geht es uns relativ gut, während wir aktiv sind. Ich bin Soldat gewesen und viele, die jetzt nach Paris fahren, sind bei einer Bundesbehörde angestellt. Ohne die geht es nicht, aber das ist in Deutschland schon sehr gut, das muss man sagen. Aber niemand weiß, was danach passiert. Gerade bei der Bundeswehr fehlen die Systeme, um die Athleten auch nach der Karriere dort zu behalten.

Das ist definitiv ein Aspekt.
Dann gibt es Menschen, die keine Waffe tragen wollen, die sind nie in den Genuss dieser Förderung gekommen, die haben 20 Jahre Sport gemacht, aber nie in die Rentenkasse eingezahlt. Das kann man auch nie wieder aufholen. Man muss sich bewusst sein: Jemand, der sich dafür entscheidet, Medaillen für Deutschland holen zu wollen, der geht ein ziemlich hohes Maß an Risiko ein, weil er nicht weiß, wie sein Leben danach weitergeht. Das ist ein Feld, welches ziemlich im Dunkeln liegt. Es geht nicht um Reichtümer, es geht darum, ein bisschen abgesichert zu sein. Ja, man macht das für sich und aus Leidenschaft, aber man vertritt auch das Land und vor allen Dingen sind es die Leute, die später wieder als Vorbilder dastehen sollen für die nächsten Generationen. Das ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe, die diese Sportler wahrnehmen. Und da ist es mir zu wenig, was vom Staat kommt.

Ronald Rauhe: "Es ist kein Sportarten-Problem, es ist ein Gesellschaftsproblem"

Wie ist die Lage denn speziell in Ihrer Sportart, im Kanurennsport?
Es ist mehr oder weniger bei allen gleich. Wir finden leider immer weniger Menschen, die bereit sind, diesen Weg zu gehen. Dem Kanurennsport geht es noch relativ gut, aber auch wir haben Disziplingruppen, wo man merkt, dass es langsam eng wird. Im Frauenbereich kommt nicht mehr viel oben an, im Moment kaschieren das die Kajak-Männer, wo ich aktiv war, noch ganz gut. Aber, wenn man genauer hinsieht, wird es auch da irgendwann schwerer. Es ist kein Sportarten-Problem, es ist ein Gesellschaftsproblem - und da sind wir wieder beim Thema. Früher oder später muss man da ran, sonst wird es den Bach runtergehen. Diese Generationen, die dann fehlen, das wieder aufzubauen, das wird ganz schwierig.

Der Kanurennsport war immer ein Garant für olympische Medaillen, eine Medaillenbank. Sehen Sie auch da schon den Trend, dass es immer schwieriger wird?
Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass wir eine bestimmte Anzahl an Medaillen holen, das ist Geschichte. Früher war es tatsächlich die Frage, welche Farbe wird es. Heute wird hingegen gehofft, dass es überhaupt eine wird. Das hat sich schon geändert und hat einfach auch damit zu tun, dass andere Länder nachgezogen haben, sich strukturell einfach verbessert haben, während wir stehengeblieben sind. Keine Ahnung, warum wir uns auf den Erfolgen ausgeruht haben, aber wir haben das Rad nicht weiter gedreht. Dann ist es logisch, dass man irgendwann auf der Stelle tritt. Trotzdem könnte ich mir vorstellen, dass es mit ein bisschen Glück sogar sieben Medaillen werden könnten.

Medaillen-Hoffnungen in der Leichtathletik ? "Viele fallen mir aus dem Stegreif nicht ein"

Welche Sportler können das Team denn in Paris tragen, aus Ihrer Sicht?
Um bei meiner Disziplin zu bleiben: Ich bin fest davon überzeugt, dass der Kajak-Vierer um Gold fahren wird. Das ist das Aushängeschild unseres Verbandes, die haben mehr als das Potenzial dafür. Aber dann wird's schon schwer. Im Bahnradsport noch die Mädels. Die werden hoffentlich noch als Leuchtturm fungieren. Ich hoffe, dass in der Leichtathletik - zum Beispiel beim Speerwurf - noch etwas kommt. Aber viele fallen mir aus dem Stegreif nicht ein, wo ich hundertprozentig meine Hand dafür ins Feuer legen würde, dass die um eine Medaille mitkämpfen. Malaika Mihambo als Ausnahmeathletin in der Leichtathletik natürlich noch.

Wer könnte perspektivisch im Kanurennsport zum Gesicht der Sportart werden?
Da haben wir gerade Glück. Wir haben im Einerbereich den Jakob Thordsen, der ist mit seinen 24 Jahren noch ein sehr junger Athlet, und der zweite Fahrer, der Anton Winkelmann, der ist sogar erst um die 20. Das sind zwei Athleten, die haben sich durchgesetzt. Das sind zwei Leute, die sowohl von der Leistung als auch von der Denkart her, in Zukunft als Führungsperson, als Motivator, als Vorbild wirken können. Das freut mich sehr, weil es wichtig ist, die Brücke zu schlagen und diese Generationen-Lücke zu füllen.

Ruahe: Olympia in Paris "wird eine sensationelle Nummer"

Aus berufenem Munde: Was braucht denn jemand, um Olympiasieger zu werden?
Erstmal ein hohes Maß an Leidenschaft, das ist die Grundvoraussetzung. Gerade im Kanurennsport machen wir das nicht für Ruhm, nicht für Geld. Dazu braucht es die Bereitschaft, so oft wie möglich außerhalb der Komfortzone zu arbeiten. Wenn man das hat und dazu selbstreflektiert ist, dann hat man schon viel mitgebracht, um letztlich vorne zu stehen.

Worauf freuen Sie sich denn besonders in Paris?
Ich freue mich generell super auf Paris, ich kann gar nicht sagen, worauf besonders. Es sind ja die ersten Spiele für mich in anderer Rolle, ohne dass ich aktiv sein "muss". Daher will ich es aufsaugen und freue mich sehr auf das Drumherum: Wie ist die Atmosphäre, wie sind die Menschen? Es ist im besten Falle ja ein Fest, was da stattfindet. Olympia zu erleben, nicht aus der Sportlerperspektive, sondern bis hinunter in die kleinsten Gassen. Ich bin mit der Familie da und freue mich auch sehr, dass ich meinen Kindern zum ersten Mal auch Olympische Spiele zeigen kann, diesen olympischen Geist, das, was es eben ausmacht. 2016 in Rio de Janeiro kam mein zweiter Sohn gerade auf die Welt, 2021 in Tokio ging es nicht aus bekannten Gründen. Von daher war das so der einzige Wermutstropfen, den ich immer hatte.

Kann Paris an London anschließen? Von den Sommerspielen 2012 haben viele geschwärmt.
Ich bin mir sicher, dass Paris eine sensationelle Nummer wird. Ich mache jedes Jahr Urlaub in Frankreich, ich bin gerne in Frankreich und kenne auch die Mentalität dort. Die Franzosen sind ja auch ein sehr gastfreundliches Volk. Ich bin mir sicher, dass es ein großes Fest wird.

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