"Er hat um sein Leben gekämpft"
Der für Wladimir Putin reservierte Ehrenplatz in der 1. Reihe blieb leer. Als hätte er es geahnt, ersparte sich der russische Präsident die Schmach, live zuzuschauen, wie sein so patriotischer Landsmann von einem weltmännischen Ukrainer nach Strich und Faden verprügelt wurde. Schiere Tapferkeit, die einzige Tugend, die Alexander Powetkin (34) zwölf Runden lang gegen Wladimir Klitschko (37) zu bieten hatte, ist für einen Macho wie Putin keine Ruhmestat. Dabei versäumte es der Weltmeister nach vier Niederschlägen, einem in der zweiten, drei in der siebten Runde, seine Überlegenheit mit dem demütigenden Knockout zu toppen. Worüber sich Klitschko selbst ärgerte: „Es klingt wahrscheinlich nicht cool. Aber ich hätte es besser machen können.”
Und es klingt grotesk, nach einem von allen drei Punktrichtern 119:104 gewerteten Fight, den Schönheitsfehler hervorzuheben: das ständige Auflehnen Klitschkos auf den permanent geduckt angreifenden Powetkin. Diese Ringerszenen nahmen dem Boxkampf die Klasse. Der fehlende Punkt zu den maximalen 120 resultierte allein aus einer Verwarnung von Ringrichter Luis Pabon in Runde 11. „Ich bin nicht so beeindruckt von Wladimir. Ich hatte mehr von ihm erwartet”, nörgelte Box-Legende Lennox Lewis (48). „Ich verstehe nicht, warum er bei seiner Überlegenheit sich andauernd auf Powetkin gelehnt hat, anstatt ihn auszuboxen.”
Das tat Klitschko in der mit 14000 Zuschauern ausverkauften Olympiahalle natürlich auch. Er bombardierte Powetkins Kopf mit seinem linken Jab. Das russische Publikum stöhnte auf, die ukrainischen Fans jubelten, wenn in den Rundenpausen auf den Videotafeln über dem Ring die Treffer in Zeitlupe wiederholt wurden: Powetkins Gesicht verformte sich, der Kopf flog nach hinten, Schweißperlen spritzten durch die Luft.
Mit verbeultem Gesicht gratulierte Powetkin nach seiner ersten Niederlage im 27. Kampf seinem Bezwinger. „Er war stärker, Wladimir ist der Beste auf der Welt.” Sprach’s im Ring und wurde ins Krankenhaus gebracht. George Foreman (64), neben Lewis der zweite Ex-Olympiasieger und Ex-Weltmeister unter der Prominenz mit Fürst Albert von Monaco samt Gattin Charlene an der Spitze, machte dem Besiegten Komplimente: „Powetkin geht als Held aus dem Ring. Er hat nicht gewonnen, aber so möchte ich jemanden kämpfen sehen.”
Der zweite Schönheitsfehler wurde um drei Uhr nachts sichtbar: Ein leicht geschwollener, blauer Fleck auf dem Jochbein. „Ich spiele nicht Schach. Da habe ich nicht aufgepasst, und er hat mir mit der linken Hand drüber gewischt”, so Wladimir , „in der siebten, achten Runde wollte ich ihn ausknocken, aber ich habe es leider nicht geschafft. Powetkin ist durch die Hölle gegangen. Er hat gekämpft, wie um sein Leben und bis zuletzt versucht, mich mit einem lucky punch auszuknocken.” Für Wladimir waren es leicht verdiente 17,5 Millionen Dollar, die mit Abstand höchste Börse im 64.Kampf. Ringsprecher-Legende Michael Buffer wurde der Atem knapp, als er alle Titel aufzählte, die der seit über neun Jahren unbesiegte Klitschko verteidigt hatte: WBA-Superchampion, IBF, WBO, IBO, The Ring Belt. Anderntags verkündete RTL die „Traumquote” von 12,30 Millionen Fernsehzuschauern, klarer Sieg im Fernduell mit „Wetten, dass?” (siehe Seite 21).
Mit Powetkin hat Wladimir den letzten ernstzunehmenden Herausforderer der von ihm und seinem Bruder Vitali ausgedünnten Schwergewichtsszene ad acta gelegt. Erst 2014 wird er wieder boxen. Er fühle sich mit 37 besser als mit 27, hat er kürzlich gesagt. Danach sei festgehalten: Wladimir könnte auch mit 47 Jahren noch das Schwergewicht beherrschen.