Elena Semechin:"Ich will zeigen, dass man auch mit der Krankheit das Leben genießen kann"
AZ: Frau Semechin, im letzten Herbst – kurz nach ihrem Triumph bei den Paralympics in Tokio – wurde Ihnen ein bösartiger Tumor im Kopf entfernt, gerade eben haben Sie den vierten Zyklus Ihrer Chemotherapie hinter sich gebracht – und nun bei der Schwimm-WM auf Madeira die Silbermedaille gewonnen. Haben Sie für sich selbst schon realisiert, was Sie da schier Übermenschliches geleistet haben?
ELENA SEMECHIN: Direkt nach dem Rennen war ich schon sehr enttäuscht, dass es nicht mit Gold geklappt hat, es war ja am Ende wirklich nur ein Wimpernschlag. Jetzt aber weiß ich natürlich, dass es eine herausragende Leistung war – und ich gar keinen Grund dafür habe, traurig zu sein.
Vor der OP hatten Sie die Sorge nicht mehr als dieselbe Elena aufzuwachen. Dieser Erfolg war nun der Beweis, dass der Tumor und die anschließende Chemotherapie ihrem sportlichen Ehrgeiz nichts hat anhaben können, oder?
Man kann die Sportlerin in mir offenbar einfach nicht ausschalten. (lacht)
Elena Semechin: "Bin froh, dass ich immer noch die alte Elena bin"
Ist diese Erkenntnis der schönste Nebeneffekt des WM-Erfolgs?
Definitiv! Ja! Ich bin froh, dass ich immer noch die alte Elena bin. Eigentlich war ich ja schon eine Gewinnerin, weil ich es überhaupt geschafft habe, an dieser WM teilzunehmen. Das hatte ja keiner zuvor gedacht.
Sie sagen es, so eine Chemotherapie ist doch für den Körper eine extreme Belastung.
Und wie! Im Prinzip wird einem ja dabei pures Gift in den Körper geleitet - und so fühlt man sich auch. Die ersten beiden Tage bei der Chemo gehen immer noch, aber dann wird es schlimm, man fühlt sich völlig schlapp, mir ist sehr übel, manchmal habe ich Fieber und Muskel- und Gelenkschmerzen, es fallen einem die Haare aus. Ich liege da eigentlich die ganze Zeit nur im Bett.
Gab es in den letzten Monaten Momente, wo Sie daran gezweifelt haben, dass Sie es überhaupt zur WM schaffen?
Ja, während der einzelnen Chemo-Schritte eigentlich regelmäßig einmal im Monat. Aber wenn ich dann die schlimme Phase überstanden hatte, war ich wieder überzeugt, dass ich es schaffen werde. Natürlich musste ich mich zwingen, denn auch wenn die Therapie dann vorbei war, ging es mir ja nicht plötzlich wieder supergut. Ich dachte mir immer wieder: "Oh Gott, ich kann einfach nicht mehr!" Ich musste mich jedes Mal wieder aufrappeln und hochkämpfen - das war mental ganz schwierig.
Keine leichte Zeit für Elena Semechin und Ehemann Phillip
Inwieweit konnte Sie in diesen Situationen Ihr Mann Phillip, der ja gleichzeitig auch Ihr Trainer ist, unterstützen?
Das war für uns beide nicht einfach. Man muss ja das ganze Emotionale ausblenden. Für ihn war es schwierig, sein Trainerdasein und seine Rolle als mein Ehemann zu trennen. In manchen Phasen wusste er nicht, ob er mich jetzt zum Training motivieren oder mich einfach in Ruhe lassen soll. Aber dadurch, dass wir schon so lange zusammenarbeiten und er mich so gut kennt, haben wir das dann irgendwie zusammen hinbekommen.
Ganz offensichtlich...
Ich frag mich ja, was ich eigentlich letztes Jahr gemacht habe, denn ich war nun bei der WM nur eine Sekunde langsamer als in Tokio. Manchmal weiß man echt nicht, was alles in so einem Körper steckt. (lacht)
In Tokio haben Sie sich ihren ganz großen Traum erfüllt. Aber angesichts der dramatischen Umstände, die kurz danach Ihr Leben von einem Tag auf der anderen komplett auf den Kopf gestellt haben – welchen Wert hat nun diese Silbermedaille für Sie?
Für meine sportliche Karriere war natürlich das Gold bei den Paralympics das absolute Highlight, da ich darauf zehn Jahre lang hingearbeitet habe. Aber für mich persönlich ist dieser zweite Platz bei der WM der größte Sieg, weil ich ja nicht wusste, was ich zu leisten im Stande bin. Ich hatte sogar ein wenig Angst vor der WM, weil ich mich gefragt habe, ob ich überhaupt ankommen werde. Sonst will ich ja immer die Leute, die mich auf meinem Weg begleiten, nicht enttäuschen, aber diesmal bin ich nur für mich selbst geschwommen, weil ich mir beweisen wollte, dass ich mir von der Krankheit nicht mein Leben bestimmen lasse.

Urkainische Mutter mit Drillingen wohnt bei Elena Semechin
Das versuchen Sie auch außerhalb des Beckens zu beweisen. Demnächst sind Sie als Stargast zur Jubiläumsfeier des "Playboy", dessen Cover sie bereits zierten, in München eingeladen. Sie kommen, obwohl Sie dann mitten im nächsten Chemo-Zyklus stecken. Viele Menschen hätten so einen Termin in dieser Situation wahrscheinlich abgesagt.
Ich freue mich sehr und bin dankbar, dass ich eingeladen worden bin. Es ist ja auch eine Barriere, wenn man hört, der Mensch hat Krebs und ist in der Chemo. Aber vielleicht kann ich anderen Menschen in so einer Situation mit diesem Auftritt Mut geben. Natürlich sehe ich jetzt im Moment nicht so aus, wie ich einmal aussah – aber das ist auch nicht wichtig, sondern nur wie man sich innen in einem selbst fühlt. Ich will damit zeigen, dass man trotz so einer Krankheit weiterleben, ja sogar das Leben genießen kann – obwohl alles so anders ist, als man es gewohnt ist.
Ein starkes Zeichen haben Sie auch bei einem anderen Thema gesetzt. Trotz Ihrer schwierigen Situation haben Sie mit Ihrem Mann bei sich in Berlin eine ukrainische Familie, die vor dem schrecklichen Krieg in der Heimat nach Deutschland geflüchtet ist, aufgenommen. Woher nehmen Sie die Kraft für so ein Engagement?
Wir haben eine Mutter mit Drillingen bei uns aufgenommen. Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit, in dieser Situation zu helfen – einfach nur Geld zu spenden, das hat mir nicht gereicht. Ich habe ja noch Verwandtschaft in Kasachstan (ehemalige Sowjet-Republik, Anm. d. Red.) und was Politik anbelangt, sind unsere Meinungen da manchmal gespalten – also das ist gerade wirklich ein ganz schmerzhaftes Thema. Ich persönlich denke aber, dass es immer Menschen gibt, denen es leider deutlich schlechter geht als mir. Und was die Menschen in der Ukraine gerade durchleben müssen, ist einfach schrecklich, das ist so unvorstellbar und das tut mir so leid, da muss man sich dann halt mal selber ein bisschen hinten anstellen und sich um solche Menschen kümmern. Das ist wichtig!
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