Elena Semechin: "Der Tumor hat sich mit mir den falschen Gegner ausgesucht"

AZ-Interview mit Elena Semechin (ehemals Krawzow): Die Para-Schwimmerin (28), die seit frühester Kindheit an einer unheilbaren Augenkrankheit leidet, holte 2021 in Tokio die langersehnte Goldmedaille. Kurz darauf wurde bei ihr ein Hirn-Tumor diagnostiziert.
AZ: Frau Semechin, das bald abgelaufene Jahr hielt für Sie die schönsten, aber auch schlimmsten Momente Ihres bisherigen Lebens parat - zuerst die so langersehnte Goldmedaille bei den Paralympischen Spielen in Tokio, dann die Schocknachricht: Hirn-Tumor! Können Sie sich noch erinnern, was Sie sich ursprünglich erhofft hatten, wie 2021 für Sie werden würde?
ELENA SEMECHIN: Damals haben wir hauptsächlich über die Paralympics nachgedacht - keiner wusste ja, ob die Spiele wegen der Pandemie wirklich stattfinden würden. Aber grundsätzlich bin davon ausgegangen, dass ich in Tokio gewinnen und 2021 das beste Jahr meiner Karriere werden würde - und ich danach mein Leben genießen könnte.
Semechin: "Ich habe so viele nette Menschen kennengelernt"
Es kam am Ende leider ganz anders. Und dennoch behaupten Sie, dass Sie ein großer Glückspilz sind. Das müssen Sie uns erklären.
Ich weiß, dass das schizophren klingt. Natürlich war die Diagnose absolut erschreckend. Aber von diesem Tag an bis heute habe ich so viele nette Menschen kennengelernt, die mir geholfen, die mich glücklich gemacht haben. Und auch mit meiner Hochzeit hatte ich ja wahnsinniges Glück, dass sie noch so kurzfristig geklappt hat. Ursprünglich war der Termin ja für Mitte November geplant, aber nach der Diagnose wollte ich dann unbedingt noch vor der Operation (3. November, d. Red.) heiraten. Mir war das einfach so wichtig, weil ich ja nicht wusste, wie ich nach dem Eingriff aufwachen würde.
Tatsächlich galt Ihre große Sorge gar nicht der OP selbst, sondern. . .
. . .ob sich durch den Eingriff im Gehirn meine Persönlichkeit verändern würde. Ja, das stimmt, davor hatte ich wirklich sehr große Angst. Bei der OP waren ja Areale im Kopf betroffen, die für mich so wichtig sind: das Persönlichkeits-, das Motivations- und das Sprachzentrum. Aber zum Glück ist ja dann nach vier Stunden wieder die alte Elena aufgewacht. (lacht) Das war neben der Goldmedaille und meiner Hochzeit auch der schönste Moment für mich in diesem Jahr, als ich nach der Narkose gemerkt habe, dass ich völlig klar bin, dass ich sprechen und alles bewegen kann.
Semechin: "Alles Erlebte hat mich stark gemacht"
Ihr Optimismus scheint unerschütterlich - trotz vieler Tiefschläge. Als Kind sind Sie mit ihren Eltern von Kasachstan nach Deutschland ausgewandert, hier dann unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen, dazu noch die unheilbare Augenkrankheit, die Sie früh fast erblinden ließ. Und dann im schönsten Moment Ihres Sportlerlebens werden Sie eiskalt von der Diagnose Hirn-Tumor erwischt. Stellt man sich da nicht die Frage: Warum immer ich?
Nein, denn das, was ich von klein auf erlebt habe, die Armut, der Hunger, die Flucht, als Ausländerin in Deutschland aufzuwachsen, all das hat mich von frühester Kindheit an stark gemacht, das hat meinen Charakter geformt. Ich habe früh gelernt, dass ich die schönen Momente genießen muss. Deshalb bin ich auch ein sehr, sehr dankbarer Mensch. Das Leben, das ich jetzt hier in Deutschland führen darf, das hätte ich mir niemals erträumen können. Klar wäre es gerade im Alltag für mich einfacher, wenn ich sehen könnte. Aber trotzdem führe ich ein tolles - und vor allem selbstbestimmtes - Leben.
Zumindest soweit es der Tumor in Zukunft zulässt. Die Ärzte haben Sie darauf vorbereitet, wohl auf Dauer mit dem Krebs leben zu müssen.
Die Analyse der Tumor-Zellen hat ergeben, dass sie sehr schnell wachsen und die Gefahr besteht, dass der Tumor jederzeit wieder kommen kann. Deswegen muss ich wahrscheinlich mein Leben lang, alle drei Monate meinen Kopf scannen lassen, um zu überprüfen, ob dort wieder etwas wächst. Als der Arzt mir erklärte, dass dies eine weitere unheilbare Krankheit ist, die nun zu meinem Leben gehört, musste ich schon schlucken - das hört man natürlich nicht gerne. Aber deshalb verzweifle ich nicht. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass sich der Tumor mit mir den falschen Gegner ausgesucht hat.
Semechin: "Man muss Gefühle zulassen"
Da hört man bei Ihnen wieder die große Kämpferin heraus. Gab es in den letzten Monaten nie Situationen, wo Sie sich einen Moment der Schwäche erlaubt haben?
Doch natürlich. Ich bin ja nicht aus Eisen. Ich hatte selbstverständlich auch Zeiten, wo ich traurig und verzweifelt war, wo mich mein Mann in den Arm genommen hat. Diese Gefühle muss man auch zulassen, sonst frisst es einen innerlich auf.
Weihnachten ist bekanntlich die Zeit der Hoffnung und der Wünsche. Welche Träume haben Sie, die Sie sich noch erfüllen möchten.
Ein Kinderwunsch ist bei mir auf jeden Fall vorhanden. Aber mit der Bestrahlung und der Chemotherapie geht das im Moment natürlich nicht. Und da ich nicht weiß, wie es mit dem Tumor weitergeht, ob ich nicht ständig Medikamente nehmen muss, muss man diesbezüglich schon abwägen. Ich bin da also relativ offen, weshalb eine Adoption für mich auch ein Thema wäre. Es gibt so viele Kinder, die kein Zuhause haben.
Semechin: "Ich liebe die Herausforderung"
Und sportlich? Haben Sie nach der Goldmedaille und vor allem nun nach der OP zwischendurch mal überlegt, Ihre Karriere zu beenden?
Nein, darüber habe ich noch keine Sekunde nachgedacht. Denn Schwimmen ist ja das, was ich wirklich gerne mache. Ich fühle mich zwar gerade schrecklich im Wasser, weil ich drei Monate nicht trainieren konnte. Und ich habe das Gefühl, dass ich das Schwimmen erst wieder neu lernen muss. (lacht) Aber ich liebe nun mal die Herausforderung, und ich weiß wirklich nicht, wann ich aufhören sollte. Vielleicht nach den Paralympics 2024 in Paris, aber auch die Spiele 2028 in Los Angeles schließe ich nicht aus. Ich bin ja noch jung und dynamisch.