"Du wirst 100 Jahre alt"

Boxen ist eine Leidenschaft fürs Leben, auch mit 75 Jahren. Reporter-Legende Hartmut Scherzer feiert Geburtstag – hier erklärt er, warum er immer noch regelmäßig ins Training geht
Seit den 50er Jahren berichtet AZ-Reporter Hartmut Scherzer über die Großen und Größten im Sport – seine Vita ist einmalig: Alleine 13 Fußball-Weltmeisterschaften, 21 Olympische Spiele, 31 Mal die Tour de France. Am Donnerstag wird Scherzer 75 Jahre alt. Er hat eine ganz besondere Beziehung zum Boxen – hier erzählt er, warum.
Von Hartmut Scherzer
Die lähmende Versagensangst vor dem großen Favoriten und späteren Titelträger der deutschen Junioren-Boxmeisterschaft 1956 im Leichtgewicht hat den Unterprimaner in einen Schauspieler verwandelt. Feige hingelegt hat er sich in der ersten Runde, einen schweren K.o.-Schlag simuliert, sich auszählen und aus dem Ring tragen lassen. Den Transport ins Krankenhaus hat sein schlechtes Gewissen noch verhindert.
Drei Jahre später lag der mittlerweile junge Sportjournalist, der doch so mutig im Sparring mit den Profi-Europameistern Conny Rudhof und Willy Quatuor oder Peter Müller den Schlagabtausch angenommen hatte, wieder am Abgrund seiner Seele. Wieder, diesmal im Endkampf um die Hochschulmeisterschaft, war diese hemmende Beklemmung größer als die Schlagkraft des Gegenüber.
Acht Sekunden blieben ihm am Boden zum Kampf mit sich selbst. Wieder Feigling? Oder Kerl? Ein innerer Ruck. Er stand auf und schlug den andere k.o. Ein herrliches Gefühl. Er war Meister, gewann den Titel im Halbweltergewicht auch im folgenden Jahr gegen denselben Gegner und zog mit 22 Jahren die Kampfhandschuhe für immer aus. Bei allem Talent – der „Kabinentod”, wie im Box-Jargon das nervliche Versagen genannt wird, war zu grausam.
Aber der Reporter hat nie aufgehört, in Vereinen oder Gyms in und um Frankfurt am Main zu trainieren. Boxtraining ist Entspannung für den Kopf und Ertüchtigung für den Körper. Längst ist Fitness mit Fäusten Trend. Und wer die Schlagtechnik, die Bewegungsabläufe von Kindesfäusten an beherrscht, dem macht dieses Training Spaß. Auch noch mit 75. Das Knallen von fast perfekten Haken und Geraden am ledernen Sack empfindet der Oldie wohlklingend wie Trommelwirbel.
Natürlich ist Kondition die Grundlage, um eine intensive Stunde in einer Gruppe mit aktiven Boxern, jungen Burschen und sportlichen Vierzigern durchzustehen. Wöchentlich zwei-, dreimal. Regelmäßiges Joggen dient zusätzlich der Form. Auf Reisen gehören Laufschuhe zum Gepäck wie der Laptop; bei Terminen der Klitschkos im Trainingscamp Stanglwirt auch mal die Handschuhe. Zuletzt rief Vitalis Trainer Fritz Sdunek den über Siebzigjährigen nach sechs Runden am Sandsack zu vier Runden Pratzenarbeit.
Wer sich quält nach dem Motto, der Wille überwindet die Erschöpfung, bei dem spielt das Alter keine Rolle. Selbst im roten Bereich. Gesundheit und Boxtraining gehen eine Symbiose ein. „Scherzer, du wirst hundert Jahre alt”, prophezeit der selbst aktive Hobby-Trainer Walter. Dessen privates Gym wird wegen des Drills „Hölle von Liederbach” genannt. Die Antwort: „Oder ich sterbe hier am Sandsack den Sekundentod.”