Djokovic: Entfesselt und ermattet
In einem Tenniskrimi ringt Favorit Djokovic den Schotten Murray nieder – und geht nun mit einem Handicap
ins Finale gegen Nadal.
Melbourne - Es war der längste und packendste Australian-Open-Abend 2012. Und als um 0.34 Uhr das zweite Halbfinale zu Ende gegangen war, nach einer Berg- und Talfahrt der besonderen Art, da hatte dieser Abend einen offiziellen und einen heimlichen Sieger. Der offizielle war Novak Djokovic, der in einer denkwürdigen Nachtvorstellung in seiner neuen Paraderolle als Entfesselungskünstler aufgetreten war und den traurigen Schotten Andy Murray nach einem 1:2-Satzrückstand noch mit 6:3, 3:6, 6:7 (4:7), 6:1 und 7:5 aus dem ersten Majortunier der Saison herauskomplimentiert hatte. Und der nicht in den Büchern geführte Gewinner hieß Rafael Nadal, Djokovics Finalgegner am Sonntag (9.30 Uhr, Eurosport live).
Jener Mann, der tags zuvor bereits im Grand-Slam-Evergreen gegen Roger Federer triumphiert hatte und sich genüsslich vor dem Fernsehschirm in seiner Hotelsuite im „Crown Tower”-Luxuspalast anschaute, wie Djokovic bis zur völligen Erschöpfung fightete und gerade noch aufrecht auf beiden Beinen die Rod-Laver-Arena in der Geisterstunde verließ. „Es kann sein”, sagte TV-Experte Jim Courier, der ehemalige Weltranglisten-Erste, „dass Rafa nun Djokovic wie eine reife Frucht vom Baum wegpflückt. Wundern würde mich das nicht.” Er hoffe, sagte Djokovic selbst mit einem leicht gequälten Lächeln, „dass ich noch ein bisschen was an Kraft zusammenbringe für das Finale. Im Moment bin ich erst mal richtig kaputt.”
In jedem Fall erlebt nun auch Melbourne das Duell der Nummer 1 und Nummer 2 der Branche und den Zweikampf, der im letzten Jahr sozusagen zur beliebten, inhaltlich wertvollen Fortsetzungsserie im Wanderzirkus wurde. Djokovic entwickelte sich dabei zum Angstgegner für Nadal, den er sowohl auf den Grüns von Wimbledon wie auch im US-Open-Finale bezwang – als Bonus erklomm der Serbe auch den Ranglistengipfel. Insgesamt sechs Mal in sechs Duellen schlug der Djoker gegen den Mallorquiner zu, selbst in der frühen Sandplatzsaison ließ er Nadal keine Chance.
„So wie Federer oft gegen Nadal blockiert wirkt, so sehr hatte Nadal mentale Probleme gegen Djokovic”, sagte der französische Tennis-Entertainer Henri Leconte, der in Australien als TV-Experte engagiert ist, „das wird superspannend am Sonntag.”
Fragt sich nur, wie Djokovic diesen aufwühlenden Centre-Court-Marathon am Freitag überstanden hat, in dem er wegen Atembeschwerden und Oberschenkelschmerzen zeitweilig sogar vor einer Aufgabe zu stehen schien. Und in dem er schließlich noch das Unmögliche möglich machte, eine irgendwie noch erstaunlichere Aufholjagd als bei den US Open im letzten September. Damals hatte Djokovic mit zwei schnellen Schüssen aus der Hüfte zwei Matchbälle im Halbfinale gegen Federer pariert. Hier in Melbourne wankte und humpelte er mitunter wie ein malader Tennis-Soldat über den Platz, wirkte endgültig geschlagen, als er einen heftig umkämpften dritten Satz in 88 Minuten im Tiebreak mit 4:7 verlor. Um dann eine Auferstehung aus Frust und Agonie zu inszenieren, die hollywoodverdächtig war.
6:1 gewann der Djoker den vierten Satz in nur 25 Minuten. Der fünfte und alles entscheidende Akt des Thrillers war dann noch einmal eine Miniaturausgabe all der Hochs und Tiefs und all der Wechselbäder der vorausgegangenen Stunden. 5:2 lag Djokovic bereits in Front, der paradoxerweise fitter wirkte als im zweiten und dritten Satz. Doch Murray, fast schon mit der eisernen Moral seines neuen Coachs Ivan Lendl ausgestattet, fightete sich zurück, glich auf 5:5 aus, hatte sogar zwei Breakbälle zur 6:5-Führung – ehe Djokovic im letzten der ungezählten Umschwünge selbst das 7:5 festschrieb. „Ich kann ehrlich nicht in Worte fassen, was da heute auf dem Centre Court passiert ist”, sagte der ermattete Serbe.
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