"Die Zeit im Ring gibt mir etwas von der Normalität zurück"

Kugelstoßerin Kober über die Paralympics in Rio, ihre Chancen auf eine Medaille, finanzielle Schwierigkeiten – und tote Igel in der Sandgrube.
von  Florian Auburger
„Die Menschen dort sind so ehrlich nett – und wollen auch nichts fürs Nett-Sein haben“, sagt Birgit Kober über die Brasilianer.
„Die Menschen dort sind so ehrlich nett – und wollen auch nichts fürs Nett-Sein haben“, sagt Birgit Kober über die Brasilianer. © privat

München - Die 45-jährige Birgit Kober ist geborene Münchnerin. Seit 2007 sitzt sie in Folge eines Behandlungsfehlers im Rollstuhl. 2012 gewann sie bei den Paralympics Gold im Kugelstoßen und Speerwerfen.

AZ: Frau Kober, wie kommt man auf die Idee, sich mit einem Rollstuhl vor eine Straßenbahn zu stellen?

Birgit Kober: (lacht) Sie haben das also mitbekommen.

Sie legten vergangenen Sommer so den Verkehr lahm.

Ich kam mit meinem Rollstuhl-Segway (elektrisches Einpersonen-Transportmittel mit Sitz, Anm. d. Red.) vom Olympia-Stützpunkt. Ich darf aufgrund meiner Epilepsie ja nicht Autofahren. Ich stand an der Tramhaltestelle am Hauptbahnhof, es war kalt und es regnete in Strömen. Es war bis zu diesem Zeitpunkt kein Problem, mit der Tram, Bus oder U-Bahn zu fahren. An diesem Tag wollte mich aber kein Tramfahrer mitnehmen, jeder hat abgewunken.

Wieso?

Die Fahrer haben mir gesagt, es gebe eine neue Dienstvorschrift. Ich sei mit meinem Segway eine Gefahr bei unerwarteten Bremsungen. Ich hatte die Hoffnung, dass mich wenigstens ein Fahrer mitnimmt. Nach einer Stunde Warten war ich durchnässt und verzweifelt.

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Wie lang standen Sie da?

So 40 Minuten. Irgendwann kam die Polizei.

Und wie waren die Reaktionen?

Gemischt. Einige Fahrgäste haben mich beschimpft. Einer hat mich sogar so geschüttelt, dass ich mir den Rücken verrenkt habe. Später wurde dann ein Shitstorm im Internet gegen mich losgetreten. Manche Menschen verstehen das nicht, das macht mich traurig. Mein Weg zum Stützpunkt ist einfach schwer mit einem normalen Rollstuhl.

Wie hat sich die Aktion aufgelöst?

Irgendwann bin ich weggefahren. Der MVV hat mir mit einer Anzeige gedroht. Es gab letztlich aber keine, weil man wahrscheinlich vermutete, dass das sonst noch mehr Aufsehen erregen würde. Einige Fahrer kamen später auf mich zu, die können ja nichts dafür. Da haben sich jetzt sehr nette Bekanntschaften entwickelt.

Ihr Weg zum Olympia-Stützpunkt ist weit. Gibt es keine nähere Trainingsmöglichkeit?

Doch, die Bezirkssportanlage bei mir um die Ecke. Da bin ich oft. Die Bedingungen dort sind aber nicht gut. Der Ring ist katastrophal. Und auch die Sandgrube. Dort musste ich bereits mehrere tote Tiere begraben. Das ist wie ein kleines Biotop. Einmal habe ich einen Igel begraben, der mit den Füßen nach oben da lag, und letztens eine Spitzmaus. Wegschmeißen wollte ich die Tiere nicht. Ich habe jetzt schon immer ein Desinfektionsspray dabei. Nicht dass ich auch irgendwann mit den Füßen nach oben da liege. (lacht)

Heute beginnen die Paralympics in Rio de Janeiro. Sie werden dort im Kugelstoßen starten. Wie groß ist die Vorfreude?

Riesig! Blöd ist nur, dass mir meine Kamera kaputt gegangen ist und ich mir jetzt eine neue holen musste. Ohne wollte ich nicht nach Rio fahren.

Warum?

Ich fotografiere sehr gern, vor allem Menschen. Mich fasziniert das Zwischenmenschliche im Sport. Szenen der Freude, aber auch der Trauer. Das will ich in Rio festhalten. Ich war ja schon im Januar dort. Ich würde jedem empfehlen, nach Rio zu reisen, die Menschen dort sind einfach herzlich.

Herzlicher als hier?

Anders. Sie sind so unvoreingenommen. Wildfremde Leute haben mich dort am Abend in ihre Wohnung eingeladen und spontan gesagt: Komm, wir nehmen uns morgen frei und zeigen dir unsere Stadt. Dazu kommt die Hilfsbereitschaft. Die Menschen dort sind so ehrlich nett – und wollen auch nichts fürs Nett-Sein haben.

Wie sehen Sie Ihre Medaillenchancen?

Silber ist möglich. Nach den Olympischen Spielen in London habe ich mich umklassifizieren lassen, weil eine Regeländerung vorgesehen hätte, dass meine Beine beim Wettkampf an einen Stuhl festgezurrt werden. Das wollte ich nicht. Und in den letzten Jahren habe ich gelernt, ein paar wacklige Schritte zu gehen. Daher starte ich in Rio im Stehen.

Was halten Sie vom Ausschluss Russlands?

Es ist bewiesen, dass es systematisches Staatsdoping war. Und so ein System zu bestrafen, ist richtig. Jetzt kommt das Aber: Wenn Sie kein Bild vor Augen haben, von irgendeinem Sportler aus Russland, dann ist das alles nicht tragisch. Sobald Sie aber in die Gesichter der Athleten sehen, die ausgeschlossen wurden, dann wird es schlimm. Und das tut mir leid. Weil diese Athleten in diesem System zerschreddert werden. Das ist ein Sport, den ich so nicht haben will. Es ist kein Tag zum Feiern.

Ein anderes Problem sind die Finanzen, die Mittel wurden gekürzt.

So kurz vor den Paralympics so eine Nachricht, das ist traurig. Es wäre schade, wenn unsere Spiele nur in einer abgespeckten Version stattfinden würden. Und dass eventuell ein paar Länder gar nicht kommen, das widerstrebt dem olympischen Gedanken.

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Können Sie Sich als Athletin denn finanziell über Wasser halten?

Ich bekomme normale Sporthilfe und habe das Glück, im Moment noch im Top-Team zu sein. Das kann sich nach Rio aber wieder ändern. Im Herbst wechsle ich vom TSV Bayer 04 Leverkusen zum TSV 1860 München. Die Sportstiftung von NRW wird dann wegfallen. Das wird ein Loch reinreißen. Mal sehen, ob ich das deckeln kann. Ich schaue gerade, dass ich in einem Job unterkomme.

Ist es schwer für Sie, einen Job zu finden?

Manchmal sage ich nicht, dass ich im Rollstuhl sitze. Werde ich dann zum Vorstellungsgespräch eingeladen, haben die Leute noch Interesse. Sehen sie mich dann aber, kommen die Ausreden. Ich könnte kotzen.

Wie reagieren Sie auf die Ausreden?

Gar nicht. Ich sage Danke und verabschiede mich. Irgendwann – ganz ehrlich – nach dem sechsten, siebten, achten Mal hat man ein Frustrationslevel erreicht, bei dem man sagt: Ich mag jetzt nicht mehr!

2007 brachte Sie ein Behandlungsfehler in den Rollstuhl. Haben Sie noch viele Gedanken daran?

Ich schließe immer ein Stückchen mehr ab. Über manche körperlichen Grenzen, die ich habe, werde ich nie wieder rüberkommen. In London bin ich im Sitzen gestartet, in Rio starte ich im Stehen. Dass ich wieder im Stehen starten kann, bedeutet mir viel. Es ist schwer, aber in diesen Minuten kann ich über mich hinauswachsen. Diese Zeit im Ring gibt mir was von dem Menschen zurück, der ich früher war, und von dieser Normalität, die ich früher einmal hatte. Wenn die Kugel dann weit fliegt, ist es immer ein Triumph über mich selbst. Das hilft mir, wieder ein Stückchen mehr Frieden mit meinem Schicksal zu schließen.

 

 

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