Die Verwandlung

Auf schmutzigen Socken verlässt der Fußballer Oliver Kahn (39) nach seinem Abschiedsspiel am Dienstag Abend die Arena – und taucht als geschliffener Redner mit Ambitionen auf seiner Party wieder auf.
von  Abendzeitung
Gibt seinem ehemaligen Boss Kontra: Ex-Kapitän Oliver Kahn.
Gibt seinem ehemaligen Boss Kontra: Ex-Kapitän Oliver Kahn. © AP

MÜNCHEN - Auf schmutzigen Socken verlässt der Fußballer Oliver Kahn (39) nach seinem Abschiedsspiel am Dienstag Abend die Arena – und taucht als geschliffener Redner mit Ambitionen auf seiner Party wieder auf.

Sein Comeback war viel umjubelt. Vermutlich war es die schnellste Rückkehr der Fußball-Geschichte. Eine knappe halbe Stunde nachdem Oliver Kahn in voller Montur ein Bad in der tobenden Menge genommen hatte, ging die Klappe am Spielfeldrand, die zu den Kabinen führt, noch einmal auf. Die Spieler waren längst verschwunden, die Fans harrten aus. Sie wollten ihn noch einmal sehen, verlangten nach einer weiteren Ehrenrunde. Sie applaudierten. Immer weiter.

Kahn kam zurück. Es muss ihn unvorbereitet getroffen haben, dass die Menge nach ihm verlangte. Er wirkte halbfertig. Als wäre er mitten in seiner Metamorphose gestört worden. Kahn kam ohne seine Werkzeuge, die ihn in über 20 Jahren seiner Profi-Karriere begleitet hatten – ohne Handschuhe, ohne Stollenschuhe, auf schmutzigen Socken. Auch das unangenehm hellblaue Trikot war weg. Er war nun: Halb Torwart, halb Mensch.

Ein Flipperautomat voller Gefühlskugeln

Wie in Trance schritt er die Mittellinie hinüber zur Gegengerade entlang, als wäre diese Linie sein vorgezeichneter Weg. Er winkte unablässig, aber nicht lässig. Er zeigte den beidhändigen Daumen nach oben. Fast ein wenig schüchtern, als wisse er nicht, was er tun solle, ganz allein auf dem Rasen, ganz ohne Mannschaft. Er verbeugte sich zaghaft, beinahe so, als wäre es ihm peinlich. Um ihn hüllte sich ein Rausch wie ein unsichtbares Band. Der Rausch der Zuneigung schnürte ihm die Emotionen ab. Lachen? Weinen? Ein Flipperautomat voller Gefühlskugeln nach einem 1:1.

Ab unter die Dusche. Abkühlen. Eine weitere halbe Stunde später kam er zur Pressekonferenz. In Anzug und Krawatte, er trug ein dunkles, angenehmes Braun. Er versuchte, Gefühle in Worte zu packen: „Man würde gerne weinen, aber gleichzeitig ist Freude da.“ Die Vokabeln Traum, Wahnsinn, Gipfel kamen ständig aus seinem Mund – aber ohne große Emotion. Als wäre sein letzter Kick schon Wochen her. Die Verwandlung war vollzogen. Der Mensch Kahn hatte zum Torwart bereits eine Distanz aufgebaut, weit größer als ein Sechzehnmeterraum. Über sein früheres Leben sagte er: „Auch wenn es mein Abschiedsspiel war, wenn ich im Tor stehe, greifen die alten Mechanismen.“ Als spräche er über eine dritte Person, sagte er: „Das ist psychologisch interessant. Du willst kein Tor bekommen. Du willst gewinnen.“

„Ich suche mir vernünftige Aufgaben.“

Der Druck war einmal. Er ist ihn los. Ob er nun in ein Loch falle? Er, der Titan, in ein Loch? Er sprach den weisen Satz: „Wenn man möchte, fällt man in ein Loch.“ Er möchte nicht. „Ich suche mir vernünftige Aufgaben.“ Kahn saß da, der Rücken zwickte ein wenig vom Abendsport, dafür verspürte er nicht mal Zeitdruck. Über eine halbe Stunde sprach er. Er beantwortete alle Fragen. Und wenn er sie nicht beantwortete, erklärte er höflich, warum. Man hätte ihn zur Krise bei 1860 und zu den Stärken und Schwächen der Liechtensteiner befragen können – egal.

Wenig später, im Zelt des Deutschen Theaters, hielt er die Begrüßungsrede vor 800 geladenen Gästen. Locker, charmant, mitunter staatstragend. „Der Fußball kann magische Momente schaffen.“ Kahn sagte dies, nicht DFB-Präsident Zwanziger, nicht Ministerpräsident Beckstein. „Olivers Rede war beeindruckend“, meinte Oliver Bierhoff gestern, „er hat bereits Abstand gewonnen – das konnte man ganz gut raushören.“ Kahn war ganz bei sich, aber weit weg vom Keeper Kahn. Vorstellen könne er sich alles. Manager bei Bayern? Warum nicht? Er sei offen für alles.

„Man sollte aufhören, bevor es anderen Leid tut, dass man noch da ist“, sagte er. Kahn hat wieder angefangen: Ein neues Leben, eine neue Rolle. Immer weiter.

Patrick Strasser

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