"Die Lawine hat mich 150 Meter mitgerissen"

In den Alpen herrscht seit Tagen hohe Lawinengefahr. Skifahrer Martin Hesse wurde vor knapp einem Jahr im Kaunertal von den Schneemassen begraben und lag im Koma.
von  Interview: Max Wessing
Unheimliche Naturgewalt: Diese Aufnahme zeigt, wie der erfahrene Skifahrer Martin Hesse (roter Kreis und Bild) von der Lawine erfasst wird. Der 33-Jährige Darmstädter lebt mittlerweile in Kitzbühel und arbeitet als Unternehmensberater.
Unheimliche Naturgewalt: Diese Aufnahme zeigt, wie der erfahrene Skifahrer Martin Hesse (roter Kreis und Bild) von der Lawine erfasst wird. Der 33-Jährige Darmstädter lebt mittlerweile in Kitzbühel und arbeitet als Unternehmensberater. © Jessica Haupt/ho

In den Alpen herrscht seit Tagen hohe Lawinengefahr. Skifahrer Martin Hesse wurde vor knapp einem Jahr im Kaunertal von den Schneemassen begraben und lag im Koma. Hier spricht er darüber.

In Bayerns Alpen liegt im Moment so viel Schnee wie lange nicht – das treibt die Skifahrer auf die Pisten. Doch gleichzeitig stellt die weiße Pracht auch eine große Gefahr dar – wenn sich ein Schneebrett löst und den Hang hinabrauscht. Derzeit gibt der bayrische Lawinenwarndienst Gefahrenstufe vier aus.

Das bedeutet: „Die Schneedecke ist an den meisten Steilhängen schwach verfestigt. Eine Lawinenauslösung ist bereits bei geringer Zusatzbelastung an zahlreichen Steilhängen wahrscheinlich.“ Martin Hesse, ein ehemaliger Profi-Freerider, ist im vergangenen Winter im Kaunertal von einer Lawine erfasst worden – und wurde lebensbedrohlich verletzt. Die AZ hat mit ihm gesprochen.

AZ: Herr Hesse, dass wir heute miteinander sprechen können, grenzt ja fast an ein Wunder. Wie geht es Ihnen?

Martin Hesse: Mir geht es gut, danke. Ich habe unheimlich viel Glück gehabt, das stimmt.

Es klingt wie ein Horrorfilm: Im März 2011 wurden Sie von einer Lawine erfasst.

Ich bin 150 Meter von der Lawine mitgerissen worden und dabei mit dem Kopf mehrmals auf Felsen aufgeschlagen. Die haben mich komplett ausgeknockt. Ich hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und diverse Gesichtsfrakturen, drei Tage lag ich nach dem Vorfall im Koma. Helm und Rückenprotektor haben mir wahrscheinlich das Leben gerettet.

Bestand die Gefahr, dass Sie gar nicht mehr aufwachen würden?

Das eher nicht. Aber die Ärzte wussten nicht, in welchem Zustand ich aufwachen würde. Sie haben damals gesagt: ,Jetzt müsste er mal wach werden, um zu gucken, was passiert.’

Inwieweit können Sie sich an ihr persönliches Drama denn noch erinnern?

An den Unfall gar nicht mehr. Alles, was ich über das Unglück weiß, haben mir meine drei Begleiter erzählt und gezeigt. Sie haben den Lawinenabgang zufällig fotografiert. Die Bilder sind für mich wie ein fremdes Buch. Erst später kamen vereinzelte Gedanken wieder. Etwa, wie ich vor dem Abgang der Lawine oben am Hang stehe.

Wie konnten Sie gerettet werden?

Meine Begleiter haben sofort einen Hubschrauber gerufen, der nach zehn Minuten an der Unglücksstelle war. Gleichzeitig hatten Mitarbeiter der Bergwacht und ein Skifahrer den Unfall gesehen und kamen direkt zur Hilfe, so dass ich rasch geborgen und ins Uniklinikum Innsbruck geflogen werden konnte.

Sind Ihnen Folgeschäden geblieben?

Körperlich ist alles wieder sehr gut verheilt. Im Kopf hat die Genesung jedoch recht lange gedauert. Da kann ich nicht sagen, ob wieder alles bei einhundert Prozent ist. Anfangs konnte kaum etwas behalten. Alles, was der Kopf aufnahm, schien wie ein Film aus einzelnen Bildern. Wenn zu viele Bilder bei mir ins Gehirn strömten, hat es direkt zugemacht.

Wie ist es heute?

Die Ärzte sagten mir, dass ich zwei Jahre Zeit hätte, um mein Gehirn wieder zu alter Stärke zu trainieren – etwa durch das Lernen von Gedichten. Das habe ich bislang gemacht. Und wissen Sie, an welchem Ort ich meinen Genesungsprozess immer besonders gut verfolgen konnte?

Bitte, erzählen Sie!

Auf dem Tennisplatz. Anfangs konnte ich noch nicht einmal einen ganz normalen Ballwechsel verfolgen, ich bekam sofort höllische Kopfschmerzen. Zudem konnte ich überhaupt nicht einschätzen, wie weit ein Ball fliegt. Das geht heute Gott sei Dank wieder genau so gut wie vor dem Unfall.

Haben Sie darüber nachgedacht, die Skier ein für allemal zur Seite zu stellen?

Ganz und gar nicht. Erstens macht es mir viel zu viel Spaß, und zweitens weiß ich ja von dem Unfall nichts mehr. Somit habe ich auch keine Angst auf der Piste. Meine Begleiter haben da tragischerweise schon größere Probleme, das Erlebte zu verarbeiten.

Und Ihre Familie? Hat diese Ihnen ins Gewissen geredet?

Bedingt. Sie haben es zwar gar nicht erst versucht, mir das Skifahren ausreden zu wollen, wohl aber gefährliche Abfahrten zu meiden.

Inwiefern hat der Unfall Ihr Leben verändert?

Der Unfall war wie eine Rückbesinnung. Das Leben bekommt andere Prioritäten. Es rutschen Dinge in den Hintergrund, die vorher noch sehr wichtig waren.

Aber das Risiko werden Sie nun bestimmt zügeln…

Viele gute Skifahrer denken sich: Ein bisschen mehr geht immer. Es ist ein Unterschied, ob man die Regeln kennt oder ob man sie beherzigt. Viele haben ein Problem damit. Aber ja: Ich werde das Risiko deutlich herunterschrauben.

 

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