"Die blödeste Stelle"
Garmisch-Partenkirchen - Ted Ligety traute sich als Erster, Felix Neureuther zu trösten. Der war just mit Verspätung ins Ziel gefahren und hatte eine derart finstere Miene aufgesetzt, als hätte ihm gerade jemand den Sommerurlaub gestrichen. Egal, Ligety ist ja nicht nur dreifacher Weltmeister von Schladming, sondern auch der Kumpel von Neureuther und sagte zu ihm: „Mann, du bist als Führender losgefahren und warst verdammt schnell bis zu deinem Fehler. Irgendwann wirst du auch einen Riesenslalom gewinnen.”
Irgendwann. In einer Woche ist es 40 Jahre her, dass ein deutscher Skifahrer einen Riesenslalom-Weltcup gewonnen hat: Max Rieger am Mont St. Anne bei Quebec/Kanada. Rieger, der ein paar Kilometer weiter in Mittenwald lebt, ist mittlerweile 66 Jahre alt. Beim Riesenslalom-Weltcup auf der Kandahar war er neben Maria Epple und Organisationschef Peter Fischer als einer der Siegerehrer eingeteilt. Allzu gerne hätte er Neureuther gratuliert, doch der leistete sich einen Innenski-Fehler in einer Ecke des Kurses, die den greifbaren Sieg zunichte machte: unterhalb des „Freefall”, des steilsten Abschnitts der Kandahar. „Eine blödere Stelle hätt’ ich mir nicht aussuchen können”, klagte Neureuther, „da geht’s total flach weiter.” Keine Chance mehr auf den Sieg: Mit zweieinhalb Sekunden Rückstand landete er auf Platz zwölf – statt auf dem Stockerl. Dort stand Alexis Pinturault ganz oben, vor Marcel Hirscher und Ligety. Zweitbester Deutscher hinter Neureuther wurde Benedikt Staubitzer, der mit Nr. 42 auf Rang 15 fuhr. Fritz Dopfer stürzte im zweiten Durchgang schon am dritten Tor und musste im Krankenhaus untersucht werden. Ersten Untersuchungen zufolge kam er mit einer Schienbeinprellung davon.
Nach dem ersten Durchgang hatte sich den 5000 Zuschauern im Zielraum ein seltenes Bild geboten: 1. Neureu-ther, 2. Pinturault, 3. Dopfer. Slalom-Vizeweltmeister Neureuther meinte später: „Dass ich mal ’nen Riesenslalom anführe, hätte doch letztes Jahr noch keiner von euch gedacht.” Da hat er Recht. Neureuther weiter: „Ich hab’ gezeigt, dass ich absolut da vorne hingehöre, auch im Riesenslalom. Ich bin diese Saison nicht einmal ausgeschieden, hatte immer konstante Leistungen. Im Riesenslalom ist die Sicherheit noch nicht so ganz da wie im Slalom, da mache ich noch zu viele Fehler. Aber die werde ich abstellen.” Der erste Riesenslalom-Sieg, und das auch noch vor der eigenen Haustür – das wäre ja zu schön gewesen.
Die Begeisterung um Neureuther war dennoch riesig. Als er nach dem ersten Lauf die 200 Meter vom Ziel rüber zur Kreuzeckbahn lief, zog er eine Menschenmenge hinter sich her, wie sonst nur Hansi Hinterseer, wenn er mit seinen Fans auf den Berg geht. „Ich freue mich, dass ich den Leuten, die mich immer unterstützt haben und die keine Karte für Schladming bekommen haben, etwas zurückgeben konnte”, sagte Neureu-ther. Die WM und das anschließende Heimrennen sei „schon mit sehr viel Stress verbunden” gewesen, „deshalb bin ich nun froh, dass jetzt mal zwei Wochen lang kein Rennen ist. Ich bin total platt und muss dringend meine Akkus aufladen.” Auch auf die Sprüche von den Kumpels wird er verzichten können. Marcel Hirscher, der dank Neureuthers Patzer seine Führung im Gesamtweltcup ausbauen konnte, meinte: „Das war sehr nett vom Felix.” So ist er nun mal, der Neureuther Felix. Er wird daran arbeiten, künftig weniger nett zu sein.