Die AZ erklärt den Mythos Giro d'Italia

Gefallene Helden, Kälteeinbrüche, Tomatenwürfe auf das Peloton: Die Italien-Rundfahrt hat seit 1909 zahlreiche Bizarrheiten hervorgebracht. Und ein Sieger wurde sogar bezahlt, damit er nicht antritt.
von  Martin Wimösterer
Durch brütende Hitze und karge Vegetation: Wie 2020 führt die Italien-Rundfahrt auch in diesem Jahr in Sizilien am Feuerberg Ätna vorbei. Doch der Giro kann auch anders.
Durch brütende Hitze und karge Vegetation: Wie 2020 führt die Italien-Rundfahrt auch in diesem Jahr in Sizilien am Feuerberg Ätna vorbei. Doch der Giro kann auch anders. © imago/LaPresse

Die 105. Italien-Rundfahrt läuft und lockt die Zuschauer an die TV-Geräte. Was macht den Mythos des Giro d'Italia eigentlich aus? Die AZ hat Anekdoten zu Eigenheiten und prägenden Helden herausgekramt.

Giro d'Italia: Hitze und Schnee

Denkt man an Italien, hat man Mittelmeer, Hitze und Urlaub im Kopf. Das mag ja stimmen und es gibt sie, die Bilder von nach Wasser hechelnden Fahrern - aber Italien kann auch anders. Immer wieder und dieser Ideenbruch macht es so spektakulär, haben Wintereinbrüche und Schneestürme die Fahrer heimgesucht.

1956 zum Beispiel, da gab es bei Bondone im Trentino einen richtigen Schneesturm. Die Etappe, bei der zahlreiche Pedaleure aufgaben, gewann mit letzter Kraft der Luxemburger Charly Gaul (nicht zu verwechseln mit Charles de Gaulle). Urlaub in Bella Italia? Nein, echte Tortur!

Geheime Unterstützung

Gaul hatte aber, erzählen angebliche Augenzeugen, geheime Unterstützung: Sein Sportdirektor bespritzte ihn am Schlussanstieg mit Warmwasser, damit er die Kälte durchsteht. Woher der gute Mann plötzlich die Eimer mit Warmwasser hergehabt haben soll, dazu schweigt die Legende gütig.

Rosa statt Gelb

Der Sport - nicht selten eine testosteronschwangere Angelegenheit, bis heute. Was war das vor ein paar Jahren für ein Zirkus um Fußballtorwart Tim Wiese und sein rosa Trikot. Beim Giro wird die sogenannte Mädchenfarbe dagegen selbstbewusst seit 1931 getragen, vom Führenden.

Modisch waren die Italiener schon immer... Stopp, das hat auch mit Vorurteilen nichts am Hut. Rosa ist ein Werbe-Gag für den Vater der Rundfahrt, der Zeitung "Gazzetta dello Sport". Bis 1900 war sie auf lindgrünem Papier gedruckt. Seitdem ist sie, Verlagsbeschluss: rosa. Auffallend anders.

Liebe, Tomatenwürfe und die Blaskapelle

Die Tifosi, die italienischen Fans, gelten als besonders begeisterungsfähig. Wieder so ein Vorurteil. Die Italiener können auch wütend. Man erzähle von 1911: Bei Neapel flüchtete das Peloton erst vor einer wild gewordenen Bullenherde, nur, um dann in einen unbefahrbaren Streckenabschnitt zu kommen.

Merke: Wer sein Radl liebt, der schiebt. Das aber fanden die Zuschauer wenig amüsant, sie beschimpften die Fahrer und bewarfen sie, das ist in Chroniken verbürgt, mit Tomaten.

"Der Unsympathische"

Und auch Sieger sind nicht immer gern gesehen: "L'Imbattibile" war einer der Spitznamen des Alfredo Binda. Zwei andere: "Der Herr der Berge" und "Der Unsympathische". Der 1902 geborene Kletterspezialist aus der Lombardei dominierte den Giro Ende der 1920er nach Strich und Faden.

Alfredo Binda war zu gut

Die Legende erzählt, dass Binda bei einer siegreichen Ankunft in Neapel auf eine Bühne stürmte, eine Trompete nahm und aufspielte - um zu zeigen, dass er noch gut Luft hat. Kurz: Binda war zu gut. Die Giro-Veranstalter boten an, ihm 1930 die Siegesprämie (heutiger Wert: rund 15.000 Euro) vorab zu zahlen - damit er nur gar nicht erst antritt. Er nahm an und heimste zeitgleich bei anderen Rundfahrten zusätzliche Prämien ein.

Pantani verkörperte den Widerspruch des Giro

Wer aber den Kult um den früheren Rad-Star Marco Pantani verfolgte, wird wiederum der Verehrungskraft der Italiener zustimmen. Pantani, Sieger von Giro und Tour de France 1998, charismatischer, impulsiver, segelohriger Glatzkopf - und: überführte Doper.

Pantani war der Held des Volkes, gefallen, aber vergöttert. Einer wie Diego Maradona. Die Fans (und Giro-Veranstalter) huldigen dem 2004 unter Drogeneinfluss verstorbenen "Il Pirata" bis heute. Vielleicht, weil er den Widerspruch verkörperte, der den Giro ausmacht.

Frappante Gegensätze

Es sind die frappanten Gegensätze, die den Mythos um die Italien-Rundfahrt so gefestigt haben: Sizilianische Hitze gegen Alpenkälte, Rosa gegen Testosteron, verschmähte Helden und vergötterte Betrüger.

Die Widersprüche machen den Giro d'Italia nicht immer schön, immer wieder gar zum Einsatzort der Carabinieri (Doping-Razzia). Der Giro d'Italia verläuft auf einem Grat zwischen Himmel und Hölle. Und die Fans schauen staunend zu.

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