„Der Mensch stammt von Gattuso ab“

Klar, noch gibt es die branchenüblichen Dementis. Aber der Wechsel von Gennaro Gattuso nach München ist wohl perfekt. Wieso die Verpflichtung des italienischen Weltmeisters für den FC Bayern Sinn macht.
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MÜNCHEN - Klar, noch gibt es die branchenüblichen Dementis. Aber der Wechsel von Gennaro Gattuso nach München ist wohl perfekt. Wieso die Verpflichtung des italienischen Weltmeisters für den FC Bayern Sinn macht.

Natürlich können sie nicht sagen: Si, e fatto. Ja, es ist durch. Beide Seiten, weder der FC Bayern noch der AC Milan, kann den Transfer von Gennaro Gattuso (30) bestätigen. Weil Milan noch kämpft. Nicht um den Titel des italienischen Meisters, den kann sich am Sonntag ausgerechnet Stadtrivale Inter mit einem Sieg sichern. Nein für Milan geht es beim SSC Neapel gegen den Abstieg. Denn so würde man beim Dauerkunden der Champions League Platz fünf, der nur zur Teilnahme am Uefa-Cup berechtigt, einstufen. Für Milan geht es in einer verkorksten Saison um die Rettung von Rang vier.

Also ziemt es sich nicht, vor Ende der Serie A Vollzug zu melden. So kann man auch die offizielle Verlautbarung von Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge verstehen. „Ich möchte das nicht kommentieren“, sagte er bei „Sport.1“´ und fügte hinzu: „Es ist ja bekannt, dass der Spieler noch beim AC Milan unter Vertrag steht. Daher möchte ich die Spekulationen gar nicht anheizen, alleine schon aufgrund unserer Freundschaft zu den Mailändern.“

Das branchenübliche Dementi

Und unter Freunden lassen sich ja prächtig Geschäfte machen. Der italienische Fernsehsender „Italia 1“ hatte gemeldet, der Wechsel Gattusos zu den Bayern sei nahezu perfekt. Ist er wohl auch. Er darf aber erst am 18. Mai bekannt gegeben werden, daher wird noch fleißig dementiert – branchenüblich. Durchgesickert aber ist, dass Gattuso die Vertragsunterschrift von Mathieu Flamini, dem Franzosen vom FC Arsenal, gar nicht geschmeckt hat. Weil er seine Position spielt – im defensiven Mittelfeld. Weil er gutes Geld verdienen soll – weit mehr als Gattuso.

Und mit Flamini (24) wurde einer für die neue Milan-Generation verpflichtet, die Altherrengarde um Maldini hat bald ausgedient. Und Gattuso, der seit 1999 bei Milan ist, und in diesen neun Jahren jeden erdenklichen Pokal dieses Planeten in Empfang nehmen durfte, suche eine neue Herausforderung. Eine neue Liga, neue Trophäen. Beim FC Bayern. Luca Toni wird seine Telefonate mit seinem Landsmann als Werbungskosten absetzen dürfen.

Der Balldieb

Für Bayern ein idealer Transfer. Der neue Trainer Jürgen Klinsmann, von 1989 bis 1992 bei Inter Mailand und 97/98 eine halbe Spielzeit bei Sampdoria Genua, spricht fließend Italienisch. Außerdem ist da ja noch Luca, der mit Kumpel Gennaro noch besser gelaunt in sein zweites Jahr geht. Und dass Gattuso einer der Publikumslieblinge wird, ist nur eine Frage von drei, vier Grätschen im ersten Heimspiel. Er ist ein Rebound-Kicker, einer der Bälle zurückerobert durch penetrantes Bearbeiten des Gegenspielers. Ein Zerstörer. Er selbst nennt sich „Ladro di Palloni“, kurz: Balldieb.

Gattuso stammt aus Kalabrien. So lebt er, so spielt er. ,,Kalabrisch spielen heißt, sich die Gage erschwitzen, erkämpfen, sich nie zurückfallen lassen, nie aufgeben, sich immer wieder mit derselben Wut in den Ball verbeißen, auch wenn der schon verloren scheint.‘‘ Sagt Gattuso über Gattuso. Einer, der Gras frisst. Und tatsächlich: Ein Erdefresser, ein „terrone“. Im Spaß wird Gattuso von seinem Milan-Kollegen Pirlo so gerufen. „Terrone‘‘ ist das Schimpfwort der Norditaliener für die aus dem Süden. Eine Beleidigung – nicht für Gattuso. Er ist stolz drauf. ,Terrone sein, heißt: profunde Wurzeln zu haben‘‘, erklärte er, ,,heißt: die Tradition zu pflegen, die eigene Kultur niemals zu verleugnen, dem eigenen Sohn den Vornamen des Großvaters zu geben und einen heiligen Respekt vor der Familie zu haben.“

"Hässlich wie Schulden"

So ist er, Gennaro Ivan (Spitzname „Rino“) Gattuso. Einer, der in seiner Kindheit in seinem Heimatort Schiavonea am Strand gekickt hat, oder auf der Straße. Mit Mülleimern als Torpfosten. Einer, der nicht vergessen hat, wo er herkommt. Aber auch einer, der genügend Ironie hat, über sich selbst zu lachen. Sich selbst bezeichnet er als „hässlich wie Schulden“. Seine 2007 veröffentlichte Autobiografie trägt den Titel ,Wenn einer quadratisch auf die Welt kommt, stirbt er nicht ohne Ecken‘. Die Geschichte ist die: Ein Süditaliener kommt in den Norden. Ohne Geld, mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Und setzt sich durch. Auf dem roten Buchcover sieht man nur eine Gesichtshälfte eines piratengrimmig dreinschauenden Vollbart-Kämfpers. Kein Wunder, dass ihn die Fans der Glasgow Rangers bei seinem ersten Auslandsabenteuer (1997-98) zum „Braveheart“ ernannten. Als einen der ihren also.

Gattuso hält sich für anpassungsfähig. Als er in Schottland war, lernte er innerhalb von nur vier Monaten passabel Englisch. Und dass er sich den Gepflogenheiten seiner Wahlheimat nicht verschließt, belegt sein Ausspruch dieser Woche. „In Deutschland müsste ich schwer auf meine Linie achten mit dem ganzen guten Bier, das es da gibt.“ Er ist noch nicht da, aber solche Sprüche gefallen den Fans jetzt schon.

Oliver Kahn hört auf. Der FC Bayern braucht Typen. Ärmelhochkrempler. Immer-Weiter-Macher. Mit Gattuso hätten sie einen grätschenden Kahn, Karnickelgriffe und Beißattacken nicht ausgeschlossen. Weil Gattuso immer ans Limit geht. Daher haben ihm sogar die Fans des Stadtrivalen Inter Mailand einen Spruch gewidmet. „Der Mensch stammt von Gattuso ab“. Eine Beleidigung? Eine Huldigung.

Patrick Strasser

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