Der Mann, der seine Freundin nicht mehr erkannte

Daniel Albrecht verlor die Kontrolle über die Ski und sein Gedächtnis: „Ich war weißes Papier.“
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Der Horrorsturz des Daniel Albrecht.
dpa Der Horrorsturz des Daniel Albrecht.

KITZBÜHEL - Daniel Albrecht verlor die Kontrolle über die Ski und sein Gedächtnis: „Ich war weißes Papier.“

Ja, sagt Daniel Albrecht, natürlich war ihm mulmig. Vor seiner Rückkehr nach Kitzbühel, an den Ort, an dem sein Leben vor einem Jahr ein anderes wurde. „Es ist ein neues Leben“, sagt er jetzt exklusiv zur AZ.

Daniel Albrecht sitzt in der Lobby des Hotels „Schweizer Hof“, 300 Meter weiter ist der Zielsprung, wo er damals mit Tempo 140 abhob und mit Kreuz und Hinterkopf auf der eisigen Piste aufschlug. „Aber schlimm ist es doch nicht hier“, sagt er, „ich kann mich ja auch an nichts mehr erinnern.“ Der ganze Tag damals ist aus der Erinnerung des 26-Jährigen gelöscht, die nächsten drei Wochen natürlich auch, die Zeit im Koma, mit Hirnblutung und Lungenquetschung.

Als er wieder aufwachte, da war alles weg. Er wusste nichts mehr, nicht Alter, nicht Namen, er kannte seine Freundin nicht mehr und die Eltern auch nicht. „Es war totale Leere in mir“, sagt er, „ich lag nur im Bett, dachte an nichts und habe mich darum auch gar nicht gefragt, wer ich eigentlich bin.“ Er hatte keine Gefühle mehr, er wusste nur, dass es gute Dinge gab und schlechte. Gut war, wenn die Mutter ihn fütterte. Schlecht war, wenn er Hunger hatte und die Mama nicht da war.

Und dass Kerstin, seine Freundin, gut war, das sah er auch. „Nur die Liebe fehlte am Anfang“, sagt er, „darum musste ich mich erst wieder neu verlieben in sie.“ Irgendwann dann, als das Bewusstsein wiederkam, begann er sich zu fragen nach seinem Ich. „Ich machte all die Schubladen in meinem Kopf auf“, sagt er, „aber die Schubladen waren alle leer. Ich war ein weißes Blatt Papier, das beschrieben werden musste.“ Die Eltern, die Kerstin, sie nahmen den Stift in die Hand.

Was im ersten Leben war, sagten sie ihm nach und nach. Dass er einmal Skirennläufer war und Weltmeister, 2007 in der Kombination. „Da wusste ich dann auf einmal, wie ich mich bei meinem Sieg fühlte“, sagt er. „Aber jetzt empfinde ich nichts mehr dabei.“ Das alte Leben, das neue, es passte nicht mehr zusammen.

Auch die Sprache musste er neu lernen. Tiernamen etwa: Schmetterling, Elefant, Löwe. Und manches brachte er durcheinander, wenn er zur Kerstin beim Essen sagte: „Mein Audi ist aber hart“, dann meinte er das Fleisch. Inzwischen ist vieles besser, den Sturz hat er oft gesehen, und dann denkt er sich: „Boah, das muss weh getan haben.“ Aber er weiß es ja nicht, ohne Erinnerung, ohne Empfindung.

Er weiß auch nicht, ob er wieder Rennen fahren kann. Er ist froh, dass er wieder sprechen kann, denken, gehen, und einmal, nur einmal noch, würde er gerne noch auf die Streif zurück. „Das reizt mich“, sagt er, „ich habe das Gefühl, wenn ich das überlebt habe, kann mir da nichts mehr passieren. Es wäre auch keine Fortsetzung der Karriere, sondern eine ganz neue.“ Die alte Karriere und das alte Leben endeten vor einem Jahr auf der Streif.

Florian Kinast

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