Der gezähmte Dominator

Lewis Hamilton lernt aus Fehlern, macht seine Familie glücklich und steht kurz vorm WM-Gewinn. Vor dem letzten Rennen in Brasilien hat er nun sieben Punkte Vorsprung auf Konkurrent Massa.
SHANGHAI Spätestens, als Lewis Hamilton in die Augen seines Bruders Nicolas blickte, wusste er, dass er an diesem Nachmittag in Shanghai wirklich alles richtig gemacht hatte. Der Mercedes-Pilot hatte gerade das vorletzte Formel-1-Rennen der Saison überlegen vor seinem Rivalen Felipe Massa gewonnen und seinen Vorsprung in der WM auf sieben Punkte ausgebaut. Nun rannte er, den Helm noch auf dem Kopf, von seinem Silberpfeil zur Absperrung, wo sein kleiner Bruder stand und euphorisch in die Hände klatschte. Nicolas leidet an Kinderlähmung, Lewis betont immer wieder, dass es ihm nur dann richtig gut gehe, wenn es Nicolas gut geht. Und gestern wollte er Nicolas nicht enttäuschen. Nicht so wie vor einer Woche in Fuji, als ihn seine ungestüme Fahrweise am Start um alle Punkte gebracht hatte. Nicht so wie vor einem Jahr in Shanghai, als er vor den Augen des Bruders mit abgefahrenen Reifen gegen die Mauer an der Boxen-Einfahrt gefahren war - und so den Anfang vom Ende seiner Titelträume eingeläutet hatte.
Gestern dagegen machte er einen riesigen Schritt in die richtige Richtung. „Mein Traum rückt näher", sagte er und sagte in dem für ihn typischen Pathos: „Wir hatten das ganze Wochenende Gott auf unserer Seite.“
Dann umarmte er Nicolas und ging einen Schritt nach links, wo seine zwei Mütter nebeneinander standen. Linda, Nicolas' Mutter und Lewis' Stiefmutter, neben Carmen, seiner leiblichen Mutter. Beide umarmten ihn, Carmen küsste seinen Helm.
In Hamilton muss während des Wochenendes ein Umdenkprozess stattgefunden haben. Während er am Donnerstag noch trotzig betonte, „nichts anders machen" zu wollen als in Fuji, also weiter hitzköpfig um den Sieg zu kämpfen, meinte er am Samstag: „Ich werde nicht in den Tag gehen und sagen, dass ich es nun schaffen muss. Ich werde es locker angehen und versuchen, so viele Punkte wie möglich zu holen."
Er hielt sich dran, behielt vor allem am Start einen kühlen Kopf und brannte dann eine konstante Runde nach der nächsten in den Asphalt. Damit holte er sogar die maximale Ausbeute. Auch, weil er während der Dienstfahrt immer wieder von seinem Renn-Ingenieur ermahnt wurde: „Disziplin, Disziplin, Disziplin", hörte Hamilton immer wieder im Kopfhörer. Das genügte, um aus dem ungestümen, manchmal rücksichtslosen Vollblut-Racer, wie ihn Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug gerne bezeichnet, den gezähmten Dominator zu machen, der gestern das Rennen in China gewann.
Ein Rennen, das übrigens nur zwei Mal einigermaßen spannend wurde: Einmal, als Hamilton in der siebten Runde einen Moment lang etwas zu viel riskiert hatte, durch eine Kurve schlitterte und den Silberpfeil nur mit Mühe wieder einfangen konnte. Später, als es für Ferrari darum ging, den auf Rang drei liegenden Massa möglichst elegant am Teamkollegen Kimi Räikkönen vorbeizulotsen. Sieben Runden vor Schluss ließ Räikkönen Massa schließlich passieren. „Ich wusste, was das Team von mir erwartet hat. Ich bin froh, dass ich meinem Teamkollegen helfen konnte", sagte Räikkönen.
Hamilton nahm auch das cool auf. Fast so, als ob er Gefallen gefunden zu haben schien an seiner neuen Abgeklärtheit. „Das war vermutlich das beste Rennen von Lewis", meinte Papa Anthony, „es ging um so viel für ihn und trotzdem hat er eine so tolle Leistung abgeliefert." Schon zur Rennmitte hatte er seine Rundenzeiten verlangsamt: „Zu wissen, dass ich hätte schneller fahren können, wenn es nötig gewesen wäre, hat sich gut angefühlt", beschrieb Hamilton eine für ihn ziemlich neue Gefühlswelt. Ein Rennen hat er jetzt noch vor sich. Und in Brasilien wird er es sogar noch ruhiger angehen können: Er muss, selbst wenn Massa sein Heimrennen gewinnen sollte, nur Fünfter werden, um sich sicher zum Weltmeister zu krönen und Nicolas und seine zwei Mütter vollends glücklich zu machen.
Filippo Cataldo