Der Box-Wissenschaftler
Doktor Wladimir Klitschko hat seinen Kampfstil perfektioniert. Spektakuläre Dramen sind nicht sein Anspruch, das unkalkulierbare Risiko scheut er – doch dafür ist der Weltmeister umso erfolgreicher.
Einen Doktortitel hat Box-Weltmeister Wladimir Klitschko bereits seit dem Jahre 2000. An der Pädagogischen Universität „Hryhorij Skoworoda“ in Perejaslaw-Chmelnyzkyj in der Ukraine promovierte er in Sportwissenschaften und Philosophie. Das Thema seiner Dissertation lautete „Sportbegabung und Talentförderung“.
Und der jetzt 36-Jährige, der am Samstag (23.00 Uhr, RTL live) seine Titel gegen den polnischen Hünen (2,02 Meter) Mariusz Wach verteidigt, hat seinen Sport zu einer Wissenschaft gemacht. Systematisch hat er über die Jahre zusammen mit seinem Ende Oktober mit nur 68 Jahren verstorbenen Trainer Emanuel Steward seine Schwächen in endlosen Stunden des Videostudiums analysiert – und letztlich eliminiert. Sein Ansatz ist klinisch, präzise, vernichtend, aber nicht gerade emotional. Klitschko setzt auf absolute Risikominimierung, er zermürbt seine Gegner Schritt für Schritt. „Wladimir ist ein absoluter Perfektionist. Er will immer alles richtig machen. Deswegen verzichtet er auch lieber mal auf einen Schlag, bevor er sich dabei in eine prekäre Situation bringt“, sagt sein neuer Trainer Johnathon Banks. Und Steward beschrieb Wladimirs Kampfstil noch wenige Wochen vor seinem Tod gegenüber der AZ so: „Manchmal bringt er mich fast zur Verzweiflung, weil er kein Risiko eingeht. Er ist so dermaßen überlegen, hat im Ring die vollkommene Kontrolle, dass er dieses Machtgefühl genießt. Er ist wie ein Scharfschütze, der so lange wartet, bis sich das Ziel im Fadenkreuz befindet, und erst dann drückt er seine rechte Schlaghand ab. Dabei hat er die Fähigkeit, die kaum einer hat, den Gegner mit nur einem Treffer auszuknocken.“
Zum Teil müssen die Fans mehrere Runden warten, bis Klitschko erstmals seinen rechten „Stahlhammer“, so sein Kampfname, einsetzt. Dieser Stil hat Klitschko 58 Siege in seinen 61 Profikämpfen eingebracht; mit seinen schnellen Beinen und der guten Deckung vermeidet er es, selber getroffen zu werden. „Wer mag es schon, ins Gesicht geschlagen zu werden?“, sagte Klitschko, „außerdem sagt doch ohnehin alle Welt, dass ich ein Glaskinn habe.“
Nach seinen beiden K.o-Pleiten gegen Corrie Sanders (2003) und Lamon Brewster (2004) galt er als „Boxer ohne Eier“, als Fighter, der keinen Schlag wegstecken kann. Sein jetziger Safety-first-Ansatz, dieses im Boxen ungewohnte Sicherheitsdenken, hat ihm nicht nur Freunde eingebracht, sondern auch viele Kritiker. Sie sehen Klitschkos Stil, anders als den seines Bruders Vitali, der keinem Schlagabtausch aus dem Weg geht, als zu verkopft, zu roboterhaft, zu emotionslos an. Box-Legende Iron Mike Tyson, der mit seinem brutalen Boxstil in den 80er und 90er Jahren Angst und Schrecken verbreitete, meinte kürzlich: „Die Klitschkos sind großartige Boxer. Ich hätte sicher meine Probleme mit ihnen gehabt, sie sind würdige Champions. Aber gerade Wladimir gibt dem Volk nicht, was sie sehen wollen. Die Fans wollen Schlachten sehen, bei denen man nicht weiß, wer als Sieger aus dem Ring steigt. Sie wollen brutale Knockouts. Die K.o.s gibt es bei Wladimir, aber es fehlt das Drama in den Kämpfen. Er hat Boxen zu einer Wissenschaft gemacht. Aber Wissenschaft ist etwas für Studenten an der Uni, nicht unbedingt für den Box-Ring.“
Zur Ehrenrettung setzt Box-Ikone Lennox Lewis an: „Einen sicheren Sieg zu riskieren, nur, um ein Drama zu erschaffen, das wäre nicht klug.“
Und klug ist er, der Box-Wissenschaftler.
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