Das Winterwunderkind

Mit dem Sieg in Moskau hat Lena Dürr alle überrascht. Dabei wollte die 21-Jährige mit dem Skifahren aufhören. Die AZ hat ihren Vater besucht.
von  Christoph Landsgesell

GERMERING Peter Dürr sitzt am Küchentisch. Seine Brille in den Händen, seine Augen blitzen, die Goldkronen funkeln. Dann erzählt der 52-Jährige die Geschichte: darüber, wie seine Tochter Lena vor ein paar Tagen beinahe aufhören wollte mit dem Skifahren.


Der Slalom in Maribor war gerade vorbei, es war wieder mal nur der 27. Platz für Lena. Kein gutes Ergebnis für die 21-Jährige, wie den ganzen Winter über schon. Lena war wieder daheim in Germering, wo sie im Elternhaus wohnt. Nach dem Konditionstraining stand sie in der Tür: „Ich mag nimmer”, sagte sie.


„Aber was willst du da machen?”, sagt Peter Dürr. Mit seiner Frau hat er drei Töchter, alle drei sind oder waren im Renngeschäft. „Da kann man hinreden wie an ein krankes Ross, solche Phasen gibt es, das kenn’ ich.” Und mit Moskau konnte ja keiner rechnen.


Die deutschen Stars der Szene, Maria Höfl-Riesch und Viktoria Rebensburg, hatten abgesagt für den Parallelslalom am Dienstagabend in Russlands Hauptstadt, um sich in Ruhe auf die Weltmeisterschaft vorzubereiten. „Aber die Lena wollte auch da eigentlich gar nicht hin”, sagt Peter Dürr. Das Selbstvertrauen seiner Tochter: am Boden. Keine Motivation, das hatten auch die Trainer registriert. Ski-Alpin-Sportdirektor Wolfgang Maier hatte angesichts des Maribor-Resultats ebenfalls so seine Zweifel: „Wir haben überlegt, was hat es für einen Sinn, Lena dort rüberzuschicken”, sagte Maier.


Schließlich ließ sich die kränkelnde Lena doch noch von ihrem Vater zu dem Moskau-Trip überreden: „Schau Dir Moskau an, hab Spaß, komm raus aus dem Trainingstrott. Und dann, dann wurde aus Spaß Ernst.”


Die Dürrs verfolgten das Rennen im Wohnzimmer. Einen Lauf gewinnen, das wird sie schon schaffen, hoffte Peter Dürr. Wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis, das wäre doch was, der stundenlange Flug und die Strapazen der Reise wären nicht ganz umsonst. Der Rest dessen, was an diesem Abend im Moskauer Flutlicht geschah, ist Familiengeschichte. Am Ende waren es sieben Läufe und das Finale gegen Veronika Velez Zuzulov aus der Slowakei, alle fehlerfrei. Lena Dürrs erster Weltcupsieg und der erste in der Familie überhaupt. Peter Dürr war in den 80ern ebenfalls im Weltcup unterwegs und 1988 bei den Olympischen Spielen in Calgary dabei. „Klar hab’ ich mich über Lenas Sieg gefreut”, sagt Peter Dürr. „Aber so einfach war’s nicht.”


Neben ihm auf dem Sofa lag Katharina, Lenas ältere Schwester, ebenfalls Skifahrerin. Sie hat gerade eine Hüftoperation hinter sich, die Slalomspezialistin wird erst in einem halben Jahr wieder auf Skiern stehen. Mitanzusehen, wie sich die kleine Schwester ganz oben steht, die Nationalhymne läuft, sie die Trophäe in den Himmel reckt: nicht ganz so leicht zu verarbeiten.


Dabei ist Katharina ihrer Schwester zumindest körperlich überlegen, findet ihr Vater. Er hat beide trainiert und kümmert sich im noch um bayerische Nachwuchsfahrer. Lena habe im Gegensatz zu ihrer Schwester das bessere Skigefühl, findet er.


„Der Skiverband weiß schon, was er an Lena hat. In ihrem Jahrgang gibt es, vom Talent und vom Willen her, keine, die besser ist, alle Disziplinen fahren zu können.” Überhaupt: „Die Lena ist ein Winterkind.” Mit zweieinhalb Jahren stand sie zum ersten Mal allein auf Skiern, den ersten Sieg im Zwergelrennen feierte sie mit sieben. Wenn Peter Dürr daheim im Wohnzimmer durch den Urkundenordner seiner Tochter blättert: fast nur erste Plätze.


Dafür hat sich vieles geopfert: „Sie hat in ihrem Leben bisher doch fast nix gemacht außer Schule und Skifahren.” Dazu leidet sie an einem angeborenen Herzfehler: ein Ventrikelseptumdefekt, ein Loch in der Herzscheidewand. „Das ist erstmal nicht weiter tragisch, muss aber immer beobachtet werden. Beim Sport stört es sie aber nicht.”


Aber der ist ja meistens sowieso Kopfsache, findet Peter Dürr. „Nach so einem Sieg kann es bei der Lena jetzt bumm machen.” Oder auch nicht. Der Zeitpunkt für einen Raketenstart könnte kaum besser sein: In einer Woche beginnt in Schladming die Weltmeisterschaft. Lena Dürr ist dabei, niemand wird sie überreden müssen. „Wahnsinn”, sagte Dürr nach ihrem Sieg „so viel Spaß habe ich beim Skifahren selten gehabt.”


Die Erfahrung fehlt ihr noch und das Selbstvertrauen, sagt ihr Vater. Das kann dauern. Aber die Lockerheit, mit der sie in Moskau achtmal nach unten raste: Das wäre für Schladming ein Anfang. Mit dem Aufhören ist es jedenfalls erstmal vorbei.

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