Das sagt Dietrich Thurau im AZ-Interview vor der 104. Tour de France

Der jetzt 62-Jährige fuhr bei der Tour de France 1977 insgesamt 15 Tage im Gelben Trikot, am Ende belegte er Rang fünf. Zudem war er 1974 Bahnrad-Weltmeister und 1977 WM-Zweiter der Straßenfahrer.
AZ: Herr Thurau, am Samstag startet die 104. Tour de France. Alles spricht dafür, dass der Brite Chris Froome zum vierten Mal gewinnt und sich damit abermals zum Radsport-König krönt, oder?
DIETRICH THURAU: Es sieht schon so aus, dass er am Ende wieder im Gelben Trikot auf den Champs-Élysées einfahren wird, wobei ich Richie Porte oder Romain Bardet einiges zutraue. Alejandro Valverde sehe ich eher in der zweiten Reihe und bei Nairo Quintana muss man abwarten, wie er die Belastung des Giro d’Italia verkraftet hat. Aber selbst, wenn Froome gewinnt, Radsport-König ist man damit noch lange nicht.
Sie sehen Ihn sehr kritisch, warum?
Mir gefällt nicht, wie er auf dem Rad rumhampelt, ein anderes Wort kann man nicht verwenden. Er kommt mit seiner Art beim Publikum auch nicht an. Er wird schnell vergessen werden, denn er hat nicht das Zeug zur Legende. Vergleichen Sie mal Froome mit großen Champions wie Merckx, Hinault oder Armstrong, was die für eine Ausstrahlung hatten. Bei Froome hat man immer dieses beängstigende Gefühl, dass er etwas zu verbergen hat. Er ist sicher nicht der Held, der den Radsport wieder in neue Höhen fahren kann.
Trauen Sie das denn überhaupt einem zu?
Ich bin von Porte beeindruckt. Der riskiert alles, aus dem Holz sind Champions gemacht. Die lassen sich nicht von einem Computer diktieren, wie sie zu fahren haben, sondern sie treten an und sagen sich: Entweder ich komme durch und triumphiere – oder ich gehe eben ein. Froome hingegen verwaltet seine Leistung, das hat nichts von einem Hasardeur, wie ihn die Leute lieben.
Die diesjährige Tour startet ja in Düsseldorf, denken Sie, dass in absehbarer Zeit in Deutschland wieder ein Radsport-Boom ausgelöst wird?
Nein. Dafür bräuchte es einen, der bei der Tour für Furore sorgt, der die Menschen elektrisiert, ein Jahrhundert-Talent, wie es eben Jan Ullrich war. Das sehe ich aber nicht. Auch ein Tony Martin, ein André Greipel kommen bei den Leuten trotz aller Erfolge nicht groß an – Marcel Kittel hat es von der Persönlichkeit drauf, aber zum Boom reicht es auch nicht. Deutschland ist keine Radsport-Nation, da braucht es Helden. Die sind rar. Frankreich ist eine große Radsport-Nation. Aber wissen Sie, wer der letzte Franzose war, der die Tour gewinnen konnte?
Hinault oder Laurent Fignon?
Hinault! Das war 1985, also vor über 30 Jahren!
Sie sprachen Ullrich an, der vor 20 Jahren als einziger Deutscher die Tour gewinnen konnte, aber nicht zur Tour-Feier eingeladen wurde...
Ich finde es eine Schande, wie mit ihm umgegangen wird. Er hat so viel für den Radsport in Deutschland getan. Klar, er hat den Fehler gemacht, nie offen und ehrlich über seine Doping-Vergangenheit zu sprechen, anders als etwa Erik Zabel, also trägt Ullrich auch selbst Schuld dran. Aber nach so vielen Jahren muss mal Schluss sein.
"Sie haben mich nicht eingeladen – das ist armselig"
Kann Deutschland mit seinen Helden nicht umgehen? Siehe Ullrich, siehe Lothar Matthäus, siehe Boris Becker?
Neid ist in anderen Ländern nicht anders. Marco Pantani wurde in Italien solange angegangen, bis er Depressionen bekam. Man sollte nie vergessen, dass es sich um Menschen handelt. Aber manche sind wirklich selber schuld. Wenn ich sehe, wie Boris Becker in jede Fernsehsendung geht und sich dort lächerlich macht, muss er sich auch nicht wundern.
Wurden Sie vom Radsportverband BDR zum Tour-Start in Düsseldorf eingeladen?
Nein. Und auch das ist armselig vom BDR. Wenn man sich große Tennis-Turniere ansieht, werden da immer die großen Legenden oder ehemaligen Sieger eingeladen, aber hier kam gar nichts. Auch okay.
Ihr Sohn Björn ist nicht bei der Tour dabei.
Ja, er ist sehr frustriert. Aber er ist jetzt in einem drittklassigen Team aus Katar gefangen. Da funktioniert gar nichts. Er hat versucht, aus dem Vertrag rauszukommen, aber das ist nicht leicht. Er weiß, dass er sich in einer Sackgasse befindet. Ich kann mir gut vorstellen, wenn er da nicht bald rauskommt, dass er sagt: Das war’s, das macht keinen Sinn.
Zuletzt gab es schreckliche Unfälle großer Sportler im Straßenverkehr. Giro-Sieger Michele Scarponi, Motorrad-Ass Nicky Hayden und Triathletin Julia Viellehner fanden bei Zusammenstößen den Tod.
Was auf den Straßen heute abgeht, kann einem Angst machen. Die Rücksichtslosigkeit nimmt zu. Bei manchen Autofahrern hat man das Gefühl, die nehmen in Kauf, dass die Radfahrer in lebensbedrohliche Situationen geraten. Wenn ich eine große Radtour fahre, gibt’s immer zwei, drei Situationen, wo ich nachher sage: Wenn ich nicht voll gebremst hätte, wär’s das für mich gewesen.
Zehn Jahre nach dem Tour-de-France-Ausstieg zeigt die ARD so viele TV-Bilder wie noch nie. Zur Rekord-Berichterstattung gehören neben den meist 80 Minuten langen Sendungen im Ersten die mehrstündigen Übertragungen beim Digitalprogramm One und im Internet (sportschau.de).