Das neue deutsche Fräulein-Wunder
Der US-Open-Wahnsinn geht weiter: Angelique Kerber steht sensationell im Halbfinale. Sie musste schon vier Mal die Heimflüge umbuchen.
Als Angelique Kerber das Break zum 4:3 im dritten Satz gegen Flavia Penetta geschafft hatte, hielt es Mutter Beata nicht mehr auf dem Sitz. Fluchtartig stürmte sie vom Platz, das Gesicht blass, von Anspannung gezeichnet. Die dramatischsten und glücklichsten Minuten in der Karriere ihrer Tochter erlebte sie nicht mehr live mit: das umkämpfte 5:3, der Matchball zum 6:4, 4:6, 6:3 und damit den Einzug ins Halbfinale. Als Tochter Angelique glückstrunken auf die Knie sank, lugte Mama Kerber um die Ecke und brach in Tränen aus: „Der Stress war unerträglich. Ich habe das nervlich nicht mehr ausgehalten. Ich bin so stolz auf Angelique. Sie hat so hart für diesen Erfolg kämpfen müssen.“
Welch ein Coup für die unscheinbare Kielerin, welch ein Schub für das deutsche Damentennis. Ein neues deutsche Fräulein-Wunder. Erst die Viertelfinal-Teilnahmen von Andrea Petkovic in Melbourne und Paris, dann das märchenhafte Comeback von Sabine Lisicki in Wimbledon bis ins Halbfinale, und nun ein Halbfinaldurchmarsch der einst talentiertesten deutschen Jugendspielerin in New York. „Ich weiß nicht, ob ich das alles träume oder ob es wirklich wahr ist“, sagte die 23-Jährige, die am Samstagabend (Ortszeit) mit Samantha Stosur um einen Platz im Finale kämpfte. Nach dem Regenchaos haben die Organisatoren das Damenfinale auf Sonntag und das der Herren auf Montag verlegt.
„Ich ziehe den Hut vor ihr. Sie spielt so gut wie nie zuvor, mit Mumm, guten Nerven und toller Fitness“, sagte Fed-Cup-Chefin Barbara Rittner. Auch Trainer Benjamin Ebrahimzadeh aus der „Schüttler Waske Tennis Academy“ lobte: „Angelique geht mutig, couragiert, wie beseelt an ihre Aufgaben. Sie nimmt ihr Glück in die eigenen Hände, geht aufs Ganze, kämpft wie eine Löwin. So sehen Halbfinalistinnen bei einem Grand Slam aus.“
Bis zum ersten Turnier-Samstag hatten Mutter Beata und Tochter Angelique ihr Hotel in Manhattan geordert, inzwischen, so die Mama, „haben wir vier Mal umgebucht und die Flüge verschoben. Wer weiß, wie das alles noch endet.“ Vor vier Jahren verlor Kerber in der 1. Runde gegen Serena Williams. „Mir werden jetzt nicht die Hände zittern, wenn ich da rausgehe“, so Kerber, „auch wenn es ein Halbfinale ist.“ Sie spüre „unglaubliches Selbstbewusstsein. Ich traue mir einfach ganz andere Dinge zu.“
Den eigenen Stärken zu vertrauen, war bisher nicht ihr Ding. Lange vor ihr selbst glaubten Weggefährtinnen wie Petkovic oder Freundin Carolin Wozniacki an die elegante Linkshänderin. „Sie hätte schon längst in den Top 20 stehen können“, sagte Wozniacki, die Petkovic mit 6:1, 7:6 stoppte. Vor ein paar Wochen hatte Petkovic Kollegin Kerber beim gemeinsamen Trainingslager in der Offenbacher „Academy“ aufgefordert, „doch mal den Hintern hochzukriegen“ und endlich die Ranglisten-Region um Platz 100 zu verlassen. Die US Open wird Kerber nun mindestens als Nummer 34 verlassen. Der dickste Scheck ist der Sensations-Halbfinalistin auch sicher: 450<EN>000 Dollar. „Ich hab’ gar nicht geschaut, wieviel ich kriege“, sagte Kerber, „ich wollte es auch gar nicht wissen.“ Noch nie hat die Kielerin ein Turnier gewonnen, spielt aber in der Form ihres Lebens, nichts kann sie derzeit beirren.
„Früher“, sagte Mutter Beata, „hätte sie so ein Match wie gegen Penetta nie gewonnen. Aber hier ist sie eine ganz neue Spielerin.“