Clijsters: Ein Märchen mit Happy End

NEW YORK - Kim Clijsters krönt ihr sensationelles Comeback auf dem Tennisplatz mit dem Sieg bei den US Open. Die erste Mutter seit 1980, die ein Grand-Slam-Turnier gewinnen konnte, ist überwältigt, denkt in der Stunde des Triumphs aber auch an ihren toten Vater.
Als Kim Clijsters um 22.57 Uhr im Arthur Ashe-Stadion ergriffen auf die Knie sank und die Hände vors Gesicht schlug, da war sie wirklich perfekt: Eine Story, die sich auch fantasievolle Drehbuchschreiber aus Hollywoods Traumfabrik nicht viel besser hätten ausdenken können. Ein Sensations-Comeback mit mal verrückten, mal anrührenden, aber immer nur erfolgreichen Kapiteln. Ein Grand Slam-Coup, den stärkste Konkurrenz, eine völlig ausgeflippte amerikanische Titelfavoritin und am Sonntagabend auch nicht die neueste Tennis-Prinzessin aus Dänemark stoppen konnten. Mama Kim war im wundersamen US Open-Spielfilm von New York einfach die Beste. Die Beste, die Stärkste und auch noch die Netteste unter allen 128 angetretenen Spielerinnen, eine Powerfrau und Charakterdarstellerin in der Champions League. "Mir fehlen die Worte. Schöner kann die Welt gar nicht mehr sein", sagte Clijsters nach dem ebenso unspektakulären wie ungefährdeten 7:5, 6:3-Endspielsieg über Carolin Wozniacki, die 19-jährige Anführererin der "Generation Next" im Damencircuit.
Wo in den letzten Jahren atemraubende Bestmarken fast immer im Herrentennis pulverisiert wurden, von Roger Federer oder seinem Gegenspieler Rafael Nadal, sorgte die sympathische Flämin nun endlich für ein kräftiges Ausrufezeichen im kriselnden Betrieb der Frauen: "Ein toller Sieg. Eine tolle Siegerin. Ein kleines Märchen", sagte die ehemalige Nummer eins-Spielerin Lindsay Davenport über die zupackende Mutter Courage, die die Familienkasse um 1,6 Millionen Dollar aufbesserte. Was niemand für möglich gehalten hatte, zauberte die 26-jährige in zwei turbulenten, spannungsgeladenen Grand Slam-Wochen vom Schläger weg: Den ersten Sieg einer Wild Card-Spielerin bei einem der vier Spitzenturniere in der modernen Ära des Tennis, den ersten Wild Card-Triumph überhaupt bei den US Open. Und den ersten Sieg einer Mutter, seit Evonne Goolagong 1980 auf Wimbledons grünen Tennisfeldern gewonnen hatte, drei Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes.
Ein Zufallsprodukt, ein Sieg glücklicher Umstände war das nicht für Mama Cool. Denn auf dem Weg zum zweiten Grand Slam-Titel nach den US Open 2005 wehrte Clijsters die Attacken namhafter Rivalinnen ab, gleich fünf Top 20-Spielerinnen musste die Rückkehrerin besiegen zum erstaunlichen Triumph im "Big Apple". "Wer beide Williamses in einem Turnier ausschaltet, und noch dazu bei den US Open, ist eine ziemlich würdige Siegerin", sagte Tennislegende Martina Navratilova. Der Skandal um Serena Williams, die im Halbfinalspiel gegen Clijsters beim Matchball praktisch disqualifiziert worden war, nahm nichts, aber auch gar nichts vom Glanz dieses Titelerfolgs: Denn die Belgierin war auch in diesem Match, so wie auch bei allen Auftritten in Flushing Meadow, die überzeugendste Turnierspielerin - eine Nummer eins in jedem Fall für die beiden Grand Slam-Wochen. "Es war alles genau richtig getimt. Ich bin im passenden Moment auf die Tour zurückgekommen, habe mir ausreichend Zeit gelassen", sagte Clijsters. Hellsichtig hatte sie auf die Starts in Paris und London im Frühsommer verzichtet.
Im übervermarkteten Tourgeschäft der Damen, in dem die glitzernde PR-Show oft die fehlende Substanz kaschieren muss, wirkte die neue strahlende US Open-Heldin fast wie ein Fremdkörper - freundlich, nett, umgänglich. Nicht eine kalte Diva wie Maria Scharapowa, nicht eine arrogante Großdarstellerin wie Serena Williams, nicht eine Oberzicke wie Jelena Jankovic. Clijsters ist einfach nur herrlich normal, ohne Allüren, ohne Affektiertheiten, ohne Alphafrau-Gehabe. Wie sie tickt, zeigten die sehnsuchtsvollen Worte, die sie am Ende der aufreibenden 14 Grand Slam-Tage noch auf dem Centre Court sprach: "Ich bin froh, wenn ich jetzt wieder ins geregelte Familienleben nach Belgien zurückkehren kann." Mama sein und Grand Slam-Siegerin werden - das verlangte der 26-jährigen viel Substanz und extreme Nervenstärke ja schon in einer frühen Comeback-Phase ab: "Zum Glück hat die gemeinsame Zeit mit Jada, meiner Tochter, mir die nötige Balance gegeben. Da habe ich sogar Kraft schöpfen können."
Nach der erfolgreichen Reise zurück in die Zukunft gewährte Clijsters tiefe Einblicke in ihr Seelenleben. Anfang des Jahres war ihr Vater Lei einem schweren Krebsleiden erlegen. Mit der Geburt seines Enkelkindes im Jahr zuvor hatte Tochter Kim ihm noch einen Herzenswunsch erfüllt. „Bei allem, was ich tue, spüre ich seine Präsenz. Das hilft, ist manchmal aber auch traurig“, sagte sie und verriet: „Ich glaube an Zeichen. Und in der letzten Zeit sind so viele Dinge passiert, dass wir dachten: Okay, er wacht über uns. Und das ist ein wirkliches schönes Gefühl.“
22 Major-Teilnahmen hatte Clijsters in ihrer ersten Karriere gebraucht, um 2005 den ersten Grand Slam-Titel in New York zu holen. "Damals ist großer Druck von mir abgefallen. Weil es ja schon hieß: Die gewinnt nie ein Topturnier", erinnerte sich Clijsters, "jetzt will und muss ich niemandem etwas beweisen." Höchstens sich selbst. Und zwar, dass sie auch als Mutter der 18 Monate alten Jada noch immer über die Zähigkeit, Willensstärke und Leidenschaft verfügt, sich durchschlagend mit den Besten der Branche messen zu können. Der Null auf Hundert-Start der dynamischen Belgierin könnte die Hackordnung schon bald nachhaltig durcheinanderwirbeln - schliesslich regiert schon zu lange das Mittelmaß in der Spitze, nicht zuletzt vorgeführt durch die kläglichen US Open-Auftritte der nominellen Frontfrau Dinara Safina. Unter den Top 20 wird der Computer der Spielerinnengewerkschaft WTA die neue US Open-Siegerin schon ab dieser Woche führen, und das wird nur der Anfang sein für Clijsters.
Emotional aufgewühlt, hatte Clijsters noch vor der offiziellen Siegerehrung die ganze Entourage in der Ehrenloge umhalst und ihrem Ehemann Bryan Lynch einen dicken Kuß auf die Lippen gedrückt. Töchterchen Jada verfolgte die Busselei aus angemessener Entfernung, in besten Händen beim Kindermädchen. Die Amerikaner auf den Rängen Freude sich aus vollem Herzen mit, bei diesen Bildern wie aus dem eigenen Familienalbum. Die Siegerin der Herzen war auch die echte Siegerin. Zu schön eben, um wahr zu sein.
Jörg Allmeroth