Chinas Angst vor Mister Bore

Tischtennis-Männer im Mannschaftsfinale: Gastgeber lässt einen 27-Jährigen aus dem Odenwald klonen. Und das alles nur wegen einem deutschen Star. Der Star namens Timo Boll.
von  Abendzeitung
In China geliebt und gefürchtet: Timo Boll.
In China geliebt und gefürchtet: Timo Boll. © dpa

Tischtennis-Männer im Mannschaftsfinale: Gastgeber lässt einen 27-Jährigen aus dem Odenwald klonen. Und das alles nur wegen einem deutschen Star. Der Star namens Timo Boll.

PEKING Eine halbe Stunde nach Ende der Partie hatte Zhang Weiwei das Wort. Zhang leitet in der olympischen Tischtennishalle die Pressekonferenzen. Und als Timo Boll neben ihm Platz genommen hatte, sagte er: „Welcome, Mister Bore.“ So hört sich der Name Boll im Chinesischen an, es klang nur lustig, weil das auf Englisch hieß: Guten Tag, Herr Langweilig.

Das mag für Timo Boll, den wortkargen Berufstischtennisspieler aus dem Odenwald, als Typen gelten. Wenn aber etwas garantiert nicht langweilig war, dann war es das Halbfinale im Mannschaftswettbewerb. Das 3:2 gegen Japan, als Timo Boll erst im letzten Einzel den Sieg sicherte. In fünf Sätzen, womit Olympia-Silber sicher war und das Traumfinale am heutigen Montag, das Endspiel gegen China.

Ein Spiel, nach dem Timo Boll emotional war wie selten. Nach dem Matchball brach er neben der Platte zusammen, versteckte seinen Kopf unter einem Handtuch und weinte los, später sprach er vom „wichtigsten Spiel und dem schönsten Moment meiner Karriere“.

Angetrieben von den Fans in der Halle. „Come on, Germany!“, riefen viele Chinesen immer wieder und jubelten frenetisch bei Bolls Punktgewinnen. Nie wurden deutsche Sportler bei Olympia so angefeuert wie Boll am Samstag. Denn hier ist Boll ein großes Idol.

Bei der Wahl unter Lesern einer Frauenzeitschrift wurde er jüngst zum attraktivsten Sportler gewählt, noch vor David Beckham. Sie verehren ihn. Und als er vor zwei Jahren als Gastspieler für Zhejiang Hanining Hongxiang in der Superliga spielte, da gab es einige verletzte Frauen, weil sie von den Bäumen fielen, auf die sie neben der Sporthalle geklettert waren, um durchs Fenster der Umkleidekabine einen Blick auf Boll zu erhaschen.

Aber Boll wird nicht nur geliebt. Er wird in China auch gefürchtet.

Von seinen Spielen haben sie ausführliche Videoanalysen gemacht, außerdem haben sie für die Weltstars Ma Lin, Wang Hao und Wang Liqin extra Trainingspartner ausgebildet, die Bolls Spielweise imitieren, damit sie sich besser auf ihn einstellen können. Boll-Klone als Gefahrenabwehr.

Sie sehen Boll als Bedrohung, das Reich mit 1,3 Milliarden Menschen zittert vor einem 27-Jährigen aus Erbach im Odenwald.

50 Jahre, nachdem Mao Tischtennis zum Nationalsport machte. Weil es so billig war: Eine Platte, ein Schläger, ein Ball, dafür brauchte es nicht viel Geld, das konnte sich auch der gemeine Arbeiter leisten. Tischtennis wurde zur sozialen Aufstiegschance, so wie Fußball in Brasilien, wo immer von den Straßenfußballern geredet wird.

In Chinas Dörfern gibt es auch noch echte Straßentischtennisspieler und Kinder, die bereits einen Schläger halten, obwohl sie noch so klein sind, dass sie die Platte gar nicht von oben sehen können. 300 Millionen Spieler hat es in China, 10 Millionen sind in Vereinen organisiert, die besten Talente schaffen es in die Schulen, so wie die Xuanwu Sportschule hier in Peking, wo schon zehnjährige Kinder aus den entlegensten Landesprovinzen zusammenkommen und fern den Eltern und der Familie getrimmt werden. Ab 6.30 Uhr mit Schule, Chinesisch, Mathe, Englisch, am Nachmittag mit Training. Sechs Stunden an der Platte.

Als Bettine Vriesekoop, eine frühere Europameisterin, die jetzt in China lebt, gefragt wurde, was das Erfolgsgeheimnis der Chinesen sei, sagte die Holländerin: „Es gibt kein Geheimnis. Sie trainieren nur sehr pragmatisch. Drei, vier Übungen, aber die so lange, bis sie keine Fehler mehr machen.“

Ein Erfolgsdrill, den auch Timo Boll in seiner Zeit in China erlebte. In den sieben Wochen dort hatte er nur einen Tag frei, nach Busfahrten von 20 Stunden und mehr ging es gleich in die Halle, trainieren. Und als er es einmal wagte, zwischen zwei Sätzen etwas trinken zu wollen, stauchte ihn sein Trainer zusammen, weil dafür sei keine Zeit, er habe jetzt seinen taktischen Anweisungen zuzuhören. „Eine extreme Erfahrung“, sagt Boll.

Extrem empfand er es auch, dass sie ihm hier vor dem Auftaktspiel gegen Kroatien den Schläger abnahmen. Der Belag sei um 0,1 Millimeter zu dick gewesen, meinten die chinesischen Regelhüter, erlaubt seien nur 4,0 Millimeter, nicht 4,1. Boll gewann auch mit einem Ersatzschläger, aber es schien schon fast wie ein psychologischer Kleinkrieg.

Heute, im Mannschaftsfinale, spielen Boll, Süß und Owtscharow vor allem gegen die 7500 Zuschauer in der Sporthalle der Pekinger Universität. Bei der Planung der Spiele hatten die Veranstalter schon den Bau einer eigenen Tischtennishalle für 40000 Menschen erwogen. Und selbst wenn sie das Finale heute im Olympiastadion austragen würden, bekämen sie die 90000 Plätze im Vogelnest voll. Aber dann entschieden sie sich doch für die Traditionsstätte, dem Ort der ersten nationalen Meisterschaften 1952. Ein Hexenkessel. Das Grünwalder Stadion des chinesischen Tischtennis.

„Wir haben nichts zu verlieren“, sagt Boll, der ehemalige Weltranglistenerste, und freut sich bereits auf das erste Bier, nach einjähriger Total-Abstinenz wegen der Olympia-Vorbereitung. „Und vielleicht verkrampfen die Chinesen ja, weil der Druck so hoch ist. Wenn man dagegen hält, spielen die Chinesen gleich eine Klasse schlechter.“ Langweilig wird es heute sicher nicht. Mit den Chinesen und Mr. Bore.

Florian Kinast

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