Boll und Biedermann: Die Unvollendeten

Rio de Janeiro - Hier in Rio de Janeiro, der brasilianischen Metropole, über die die weltberühmte Jesus-Statue Cristo Redentor (Jesus Christus, der Erlöser) vom Berg Corcovado aus wacht, wollten sich zwei Ikonen des deutschen Sports ihre olympische Erlösung holen und ihre illustren Karrieren endlich mit einer Einzel-Medaille bei Olympia krönen.
Doch an der Copacabana konnten die beiden routinierten Recken – Tischtennis-Superstar Timo Boll und Ausnahmeschwimmer Paul Biedermann – beim Streben nach "Citius, altius, fortius" (höher, schneller, weiter“) nicht mehr mithalten. Für sie gibt es keinen individuellen Medaillensegen. Rekord-Europameister Boll, der einst der großen Tischtennis-Nation China das Fürchten lehrte, der der erste Deutsche war, der je die Weltrangliste anführte, scheiterte im Achtelfinale. 2:4 – unterlag er dem Nigerianer Quadri Aruna.
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Aus der olympische Traum, der Fahnenschwenker-Untergang für den 35-jährigen Boll, der bei der Eröffnungsfeier die deutsche Flagge getragen hatte und dies als "bisheriges Highlight" seiner Karriere bezeichnet hatte. Das bisherig kann er nun streichen, eine Olympia-Medaille bei den Spielen 2020 in Tokio darf man getrost ins Reich der Fabeln verweisen. Das weiß auch Boll. "Es wird immer schwieriger", sagte er, nachdem er mit einem milden Lächeln winkend die Halle verlassen hatte.
Schon 2000 in Sydney, 2004 in Athen, 2008 in Peking und 2012 in London war Boll jeweils früh gescheitert. Das olympische Einzel und Boll passen offenbar nicht zusammen. Er sei aber niemand, der "vertanen Chancen nachtrauert", erklärte Boll: "Ich habe alles gegeben. Wenn dann jemand besser ist, ist das eben so. Ich bin mit mir im Reinen, habe mir nichts vorzuwerfen."
Aruna war schlicht besser. Sein deutscher Coach Martin Adomeit, einst Bundestrainer der deutschen Frauen, hatte seinen Schützling perfekt auf "Mr. Tischtennis" eingestellt: "Am Ende bin ich jubelnd rumgesprungen. Quadri kam wie so viele Afrikaner unglaublich über die Emotion. Sein Jubelsprung hatte ja eine unfassbare Höhe. Was für ein Tag." Und so bleibt Boll ein Unvollendeter.
"Es ist eine Mischung aus Wut und Enttäuschung"
So wie auch Paul Biedermann. Auch sein olympischer Traum ging baden. Im Finale über die 200 Meter Freistil wurde er nur Sechster. Einen Tag nach seinem 30. Geburtstag, fehlten ihm zu Bronze sechs Zehntelsekunden. In 1:45,84 Minuten war er langsamer geschwommen als zuvor im Vorlauf und im Halbfinale. So bleibt Biedermann, der Mann, der vor sieben Jahren sensationell Michael Phelps schlug und dem Superstar den Weltrekord raubte, unter den olympischen Ringen ein Unvollendeter. 2008 in Peking und 2012 in London hatte er Platz fünf erreicht. "Es war nicht mehr drin. Das war das Maximum. Damit muss ich jetzt zufrieden sein", sagte Biedermann.
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Der Weltmeister, der Weltrekordler wollte seinen Frust verbergen – es gelang ihm nicht. Als er in der Interviewzone auf ein Podest steigen sollte, damit ihn alle sehen könnten, weigerte er sich. "Nein, da gehe ich nicht drauf", sagte er, nachdem er das Siegertreppchen und damit eine Einzelmedaille verpasst hatte. Damit war auch die historische Medaillenpleite der deutschen Athleten perfekt. Keine Medaille an den ersten drei olympischen Wettkampftagen, länger hat Deutschland zuletzt vor der Wiedervereinigung auf Edelmetall warten müssen. "Das ist natürlich enttäuschend", befand der Chef de Mission Michael Vesper.
Enttäuschung, das war auch Biedermanns Stichwort. "Es ist eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. Der große Traum ist nicht in Erfüllung gegangen", sagte sein Trainer Frank Embacher. Und der will jetzt, da Biedermann seine Karriere demnächst beenden wird, das Trainer-Schützling-Verhältnis aufkündigen. "Wir sollten uns dann endlich duzen", sagte Embacher, "wir werden dann zusammen ein Bier trinken."
Es dürften Frustbiere sein für Paul, den Unvollendeten.