Boll: Erst einmal jammern

Auch bei seinem vierten Olympia-Anlauf scheitert Tischtennis-Star Timo Boll frühzeitig, badet in Selbstmitleid und sucht nun verzweifelt nach Erklärungen für das Unerklärliche.
von  az

LONDON Timo Boll verkroch sich auf sein Zimmer im neunten Stock und ließ die Telefonleitungen glühen. Nachdem der Tischtennis-Star seine letzte große Chance auf die fehlende olympische Einzel-Medaille vergeben hatte, holte sich der 31-Jährige Trost von seinen Lieben. Der Frust war grenzenlos: „Ich werde erst einmal jammern und in Selbstmitleid baden”, hatte er angekündigt.

An schnellen Schlaf jedenfalls war nach dem Achtelfinal-Debakel nicht zu denken. Gegen Mitternacht schrieb der Rekordeuropameister auf seiner Facebook-Seite: „Bin natürlich sehr enttäuscht. Hatte mir viel vorgenommen und war eigentlich in guter Form.” Doch bei seinen vierten Spielen ereilte ihn erneut der Olympia-Fluch. Mit blassem Gesicht und leerem Blick hatte Boll bereits unmittelbar nach dem Aus eine Erklärung für das Unerklärliche gesucht. „Ich war am Tisch total verkrampft, das ist bei mir wohl typisch Olympia. Das ist dann wie ein anderer Sport”, sagte der WM-Dritte und blickte zu Boden. „Das bekomme ich einfach nicht gebacken.”

Zum dritten Mal in Folge ging er als Mitfavorit in das Einzel-Turnier – und scheiterte, bevor Edelmetall oder einer der gefürchteten Chinesen auch nur in Sichtweite kamen. 2004 endete der Traum im Viertelfinale gegen den Schweden Jan-Ove Waldner, vier Jahre darauf in Peking im Achtelfinale gegen den Südkoreaner Oh Sang Eun – und nun hieß die Endstation Adrian Crisan.

Beim 1:4 gegen den 32-jährigen Rumänen, Nummer 27 der Welt, sahen die knapp 6000 Zuschauer in der ExCeL-Arena keine andere Sportart, sondern einen anderen Timo Boll. Der Weltranglistensiebte, wenige Stunden zuvor mit einem 4:0 gegen den Iraner Noshad Alamiyan gestartet, wirkte fahrig, haderte mit seinem Aufschlag. „Dann ist mir das ganze Spiel weggebrochen”, sagte der frustrierte Linkshänder.

Bis Olympia 2016 in Rio will Boll weitermachen, aber nicht wegen dieser einen verflixten Medaille. „Ich werde versuchen, weiter sehr gut Tischtennis zu spielen, aber ich habe immer gesagt, dass meine Karriere ohne diese Medaille nicht unvollkommen ist. Es war deswegen nicht alles scheiße.”

Vorwürfe könne er sich ohnehin nicht machen. „Vorbereitungstechnisch war alles bestens”, sagte Boll ratlos. Erstmals war er von ernsthaften Blessuren verschont geblieben. Dann aber versagten die Nerven. Daher fragte er sich, ob nicht vielleicht ein Sportpsychologe bei der Vorbereitung geholfen hätte. Die Antwort: „Wenn vorher alles optimal läuft, und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen, sehe ich dafür eigentlich keinen Grund.”

Bundestrainer Jörg Roßkopf, der die Niederlage noch bei der Rückfahrt im Bus mit Boll und Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig analysierte, gibt seinem Schützling Zeit, um die Wunden zu heilen. „Er soll abschalten und bekommt deshalb einen Tag frei”, sagte der Olympiadritte von 1996. Denn Boll wird in London noch dringend gebraucht. Am Freitag beginnt der Team-Wettbewerb mit dem Achtelfinale gegen Schweden. Im Teamwettbewerb gewann der Düsseldorfer vor vier Jahren in Peking Silber. „Timo weiß, dass er ein wichtiger Faktor für uns ist”, sagte Bundestrainer Roßkopf. Boll versprach, dass er sich aus dem Loch ziehen wolle, „um wieder voll da zu sein”.

Noch in der Halle hatte sich Boll erkundigt, ob er für sich und seine Ehefrau Rodelia Tickets für andere Sportarten bekommen könne. Aber abends stand doch wieder Tischtennis auf dem Programm. Mit dem Rest der Mannschaft kam Boll in die ExCeL-Arena, um seinen Kumpel Dimitrij Ovtcharov im Viertelfinale anzufeuern – in diesem verflixten, anderen Sport.

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