Birgit Kober: Erst Gold, nun Gerechtigkeit
LONDON Die Momente während der Nationalhymne genoss sie in vollen Zügen: Rechte Hand aufs Herz und den deutschen Bundesadler auf dem Trainingsanzug. Birgit Kober sang mit: textsicher und lautstark mit. „Ich habe so kräftig mitgesungen, weil ich sonst angefangen hätte zu weinen”, sagte die 41-Jährige direkt nach der Siegerehrung zur AZ. „Und mit dem Text der Hymne hatte ich eigentlich noch nie ein Problem. Ich gehöre sicher noch zu der Generation, die das Lied noch in der Schule gelernt hat.”
Einen Tag zuvor war Kober der bisher größte sportliche Erfolg in ihrer Laufbahn gelungen. Im Speerwurf-Wettbewerb bei den Paralympics in London setzte sich die Münchnerin, die an starken Bewegungs- und Koordinationsstörungen leidet, mit der Weltrekordweite von 27,03 Metern durch. „Das ist eine tolle Weite, einfach überwältigend”, sagt Kober, die für den TSV Bayer Leverkusen startet, ihrem Heimatverein ESV München aber immer noch treu als Übungsleiterin verbunden ist.
„Wenn ich nicht gerade in Vorbereitungen auf Wettkämpfe wie bei den Paralympics stecke, trainiere ich zwei- bis dreimal die Woche den Werfernachwuchs beim ESV”, sagt Kober, die noch immer für den Münchner Verein starten würde, hätte nicht 2007 ein schwerer Schicksalsschlag ihr Leben vollkommen verändert: „Nach dem Vorfall wäre es für den ESV München einfach zu teuer gewesen, meinen Sport zu finanzieren. Außerdem hätten sie eine eigene Behindertensport-Abteilung gründen müssen.”
Das Vorfall: Das ist der Grund für ihre Behinderung. Die Umstände, die im Frühjahr 2007 zur schrecklichen Diagnose Ataxie führten, sind tragisch. Ein Behandlungsfehler war Schuld. Der in Neuperlach lebenden, stets unbekümmerten Sportlerin mit Epilepsie war auf der Intensivstation eine massiv toxische Dosis eines Artzney per Infusion verabreicht worden – wegen eines Schreibfehlers. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl. „Die haben mir mein Leben genommen. Ich habe Pädagogik studiert, war fast fertig, konnte nach dem Vorfall aber noch nicht mal meine Magisterarbeit zu Ende schreiben”, erzählt Kober.
Der Kampf um Gerechtigkeit hält seitdem an. Ihr Weltrekordwurf zu Gold bei den Paralympics soll Kober neuen (öffentlichkeitswirksamen) Schwung verleihen. „Die sagen zu mir: Wer so gut Sport machen kann, dem kann es nicht so schlecht gehen. Es tut so weh, wenn man mit Schlamm beschmissen wird”, sagt Kober.
Im Oktober wird der Prozess um Entschädigung gegen das Klinikum Rechts der Isar in München am Landgericht verhandelt.
Bis dahin hat die Katzenliebhaberin, die aus dem Leben mit den Vierbeinern viel Kraft zieht, noch viel vor – vor allem bei den Paralympics. Am Donnerstag will sie im Kugelstoßen das nächste Gold für Deutschland holen – und den nächsten Weltrekord gleich dazu. „Man muss immer vorsichtig sein vor so einem Wettkampf, aber ich kann das schaffen”, sagt Kober. Ähnlich sieht das auch Joachim Lipske. Der bayerische Landestrainer der frisch gekürten Goldmedaillengewinnerin ist mit Birgit Kober in London: „Ich bin keiner, der vor einem Wettkampf irgendwelche Prognosen rausposaunt, aber der nächste Erfolg ist sicher möglich.”
Für Klaus Peter ist das nächste Gold dagegen nur noch Formsache. Der Abteilungsleiter des ESV München und langjährige Trainer von Birgit Kober ist sich sicher: „Am Donnerstag gibt es das zweite Gold.” Er selbst hat seinen einstigen Schützling einst zu den Werfern beordert: „Als sie hier ankam ist sie zunächst gelaufen, hat dabei aber die ganze Bahn gebraucht. Nachdem ich ihren starken Händedruck gespürt hatte, hab’ ich sie zu den Werfern geschickt. Seitdem ist sie dabei.”
Eine Entscheidung mit Folgen. „Der Sport verbessert ihre Lebensqualität enorm”, sagt Joachim Lipske. Das Leben mit ihren drei Katzen tut sein übriges: „Die Drei geben mir sehr viel Mut und Kraft zum Weitermachen.”