„Bandit“ Ross Brawn: List zieht sich durch seine Karriere
Nach Sensationssieg des neuen Rennstalls Brawn reagieren Teile der Konkurrenz eher unwirsch.
MELBOURNE Das hatten sie dann doch nicht gewollt. Dass da ein Rennstall wie „Phoenix aus der Asche“ (Michael Schumacher) steigt und dem gesamten Geldadel in der Formel 1 auf und davon fährt. Dass ein letztes Jahr noch demotivierter Brite souverän das Auftaktrennen gewinnt und sich danach frech grinsend mit seiner Freundin für zehn Minuten in eine enge Kabine des Teamzelts verzieht. Dass ein begnadeter Ingenieur mit begrenzten Geldmitteln offenbar besser arbeitet als alle hochbezahlten Techniker der Werksteams.
Jenson Button, Rubens Barrichello und vor allem Ross Brawn haben die Formel-1-Welt am Sonntag mit dem sensationellen Debüt-Doppelsieg des neuen Brawn-Rennstalls aus den Angeln gehoben. Noch dazu mit ausdrücklicher Erlaubnis der Konkurrenz. Schließlich waren sich alle Teams im Winter einig, dass das Startfeld 20 Fahrer bräuchte. Nach dem Honda-Ausstieg halfen sie Brawn so gut sie konnten. McLaren-Mercedes etwa lieferten kurzfristig und günstig Motoren und sogar Personal und das Lenkrad fürs Auto, dem sie nun hinterherfahren. Zugegeben, Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug verkauft das perfekt. „Bei uns ist eben der Kunde König", sagte er am Sonntag.
Einige von Haugs Kollegen aber reagierten eher unwirsch auf die Tatsache, dass die Brawn-Flundern „auf einem eigenen Planeten“ unterwegs zu sein scheinen, wie Ferrari-Pilot Felipe Massa anmerkte – und jetzt schon von der WM träumen. „Es geht mir nur um Siege momentan. Alles ist aber möglich, wenn wir weiter gewinnen“, sagte Brawn.
Flavio Briatore etwa, der Renault-Boss, nannte Brawn und seine Truppe unverblümt „Banditen“. BMW-Motorsportchef Mario Theissen ließ sich immerhin zum Spruch hinreißen, dass jemand bei der Auslegung des Regelwerks „aus grau dunkelgrau“ gemacht hätte. Gemeint: Ross Brawns Doppeldiffusor, der die Boliden mindestens drei Zehntel pro Runde schneller machen soll. Der Protest gegen das umstrittene Hinterteil der Brawn-Boliden verpuffte einstweilen. Auch weil, wie Briatore vermutet, Brawns Mitarbeiter den Regelhütern bei der technischen Abnahme nicht die ganze Wahrheit gesagt hätten.
Ganz neu wäre das tatsächlich nicht. Einen gewissen Hang zur List zieht sich schließlich durch Brawns komplette Karriere. Schon der Bolide, mit dem Michael Schumacher 1994 zum ersten Mal Weltmeister wurde, hatte eine unerlaubte Traktionskontrolle. Brawns Chef bei Benetton war damals übrigens Flavio Briatore. Wenig später erlaubte man die Traktionskontrolle. Für alle. Und so wird es jetzt auch wieder kommen. Die Gegner dürfen Brawns Autos jetzt nachfahren, das Heck der neuen Sieger studieren und nachbauen. In sechs Wochen dürfte wieder Chancengleichheit herrschen
. F. Cataldo, P. Hesseler