Astrid Kumbernuss im AZ-Interview: "Ich habe Gänsehaut, wenn ich an Atlanta denke"

AZ-Interview mit Astrid Kumbernuss. Die 51-jährige ehemalige Kugelstoßerin wurde 1996 in Atlanta Olympiasiegerin und insgesamt dreimal Weltmeisterin.
AZ: Frau Kumbernuss, was ist denn aus der Sonnenbrille geworden, die Sie in Atlanta während des Wettkampfs trugen?
ASTRID KUMBERNUSS: Die habe ich nicht mehr, nicht mal mehr in meiner Kruschkiste. Die Sonnenbrille trug ich, um in die Ferne zu sehen. So ein Stadion ist weit und ich wollte ja auch sehen, was mir mein Trainer andeutet. (lacht) Darum ließen wir eine Sonnenbrille mit optischer Wirkung anfertigen. Da würde aber auch die Stärke nicht mehr passen.
Welche Dioptrienzahl hatte die Brille?
0,7 oder 0,8 - nicht viel. Ich war da ein Sensibelchen, auch was den Ring und das Wetter anging - das musste alles passen. Andererseits konnte ich mich in einen Wettkampf hineinsteigern. Wenn die Stadionsitze alle heruntergefallen wären, hätte ich das nicht wahrgenommen. So etwas muss man auch können.
Heute hätten Sie die Sonnenbrille teuer per Sponsor vermarkten können.
An so was habe ich damals nicht gedacht. Da ging es um Dinge wie die olympische Ehre. Hätten Sie mir das mal eher gesagt. . . (lacht)
Kumbernuss: "Man zehrt Jahre von so einem Sieg"
Was von Atlanta haben Sie noch?
Außer der Medaille und der Urkunde nichts mehr. Die Startnummern bekamen Sponsor und Manager, dann fragten der Verein und das Museum an. Ich habe gerne eine Freude bereitet. Die Erinnerungen habe ich im Kopf.
Welche sind das?
Atlanta waren meine ersten Olympischen Spiele, mit riesiger Erwartung. Deutschland, die Sponsoren, die Familie, ich selbst - da hieß es: "Astrid Kumbernuss kommt mit der Goldmedaille heim." Am Ende war es ein Kampfsieg. Die Amerikaner haben ihre eigenen Sportler angefeuert, ansonsten waren sie verhalten - das ergab einen ganz anderen Wettkampf als in Sydney oder als ich ihn im antiken Olympia stoßen durfte. Als ich in Atlanta schließlich die Medaille um den Hals bekam, war das Stadion nur noch zu einem Drittel gefüllt. Ich dachte mir: Wo sind die denn gerade alle? Mein Manager hatte ein privates Haus angemietet, dort feierte ich mit meinem Trainer und Manager in privater Runde. Irgendwann fragte ich: "Das war's jetzt?" Mein Manager antwortete: "Jo." Ich hatte ganz andere Erwartungen gehabt. Es bedurfte viel Zeit, bis ich den Olympiasieg begriff. Aber man zehrt Jahre von so einem Sieg, sonst würden wir ja auch nicht telefonieren. (lacht) Da durchlebt man den Tag immer wieder, ich habe jetzt sogar Gänsehaut bekommen.
Verfolgen Sie denn die aktuelle Szene?
Na, sicher! Ich bin ja jetzt selber Trainerin, alles dreht sich um den Sport. Der hat sich aber verändert.
Was meinen Sie konkret?
Naja, ich trainiere Claudine Vita, sie fuhr jetzt zu den Spielen. Wie die Nominierung und die Organisation abgelaufen ist - ziemlich holprig. Und das lag nicht an Corona. Und die Generation an Athleten. . . Der absolute Wille und die Bereitschaft, dem Sport alles unterzuordnen - das war früher anders. Auch das Trainerbild ist anders, früher war man das zu 24 Stunden am Tag. Heute hört man schon mal: Mach nicht so viel, ich will am Wochenende mit meiner Familie unterwegs sein. Und wie sich die Athleten heute finanzieren müssen - wie soll das gehen?
Kumbernuss: "Die Leistung ist oft nebensächlich"
Wie war das bei Ihnen?
Als Kadersportler war ich durch die Deutsche Sporthilfe gefördert und ich hatte auch Sponsoren. Heute welche zu finden, das ist nicht leicht. Früher zählte zuerst die Leistung und dann vielleicht noch der Typ und ob du eine Geschichte zu erzählen hast. Heute zählt zuerst die Geschichte, die Leistung ist oft nebensächlich.
Sie arbeiten als Trainerin, auch für die chinesische Nationalmannschaft.
Falsch, nicht mehr. Wir, also mein ehemaliger Trainer Dieter Kollark und ich, hatten auch nur ausgewählte Athleten. Lijiao Gong wurde Weltmeisterin. Das Problem war: Man wollte, dass wir ein Dreivierteljahr in Peking sind und mit den Sportlern herumreisen. Unser Lebensmittelpunkt ist aber hier.
Wie ist die Mentalität der chinesischen Sportler - haben diese noch den absoluten Willen, oder ist das ein Stereotyp?
In China gibt es ganz klare Anweisungen. Da wird trainiert wie vorgegeben. So wird das gemacht - oder du bist raus. Das ist schon krass. Am Ende ist es doch eine Partnerschaft zwischen Trainer und Athleten. Da sind wir mächtig mit den uns zugewiesenen Verantwortlichen aneinandergeraten.
Sie sind in der DDR groß geworden, die auch einen kommunistischen Stempel hatte. Wie lief dort das Training?
Ich war ein Mädchen, das draußen war und viel probiert hat. Über das Sichtungssystem kam ich zur Sportschule. Training, Sport, alles auf kurzen Wegen - für mich war es die Erfüllung. Ich bin an den Wochenenden, als andere heimfuhren, gerne im Internat geblieben. Ich quälte mich gern, man musste mich eher bremsen. Das war nicht wie in China. Dort sind die Athleten über Monate kaserniert. Teilweise taten sie mir leid. Wir haben versucht, das in einem Rahmen zu gestalten, aber Veränderungen waren schwer.
Kumbernuss arbeitet jetzt als Trainerin
Sie haben 2005 Ihre aktive Karriere beendet und sind danach ins Berufsleben eingestiegen.
Wir wussten: Wenn mein Sohn in die Schule kommt, wird es mit dem Reisen schwer. Ich hatte alles erreicht und erste Blessuren. Ich genoss das Abschiedsjahr und wurde toll verabschiedet. Zuerst begann ich ein Studium. Danach ergab es sich, dass ich als Quereinsteigerin zu Barmer kam. Dort arbeitete ich mich zur Leiterin im Marketing und Sponsoring hoch. Dann lernte ich einen neuen Mann kennen und stellte nochmal alles auf den Kopf. Seitdem arbeite ich als Trainerin beim SC Neubrandenburg und kümmere mich für den Verein auch um Marketing und Sponsoring. Viel zu tun.
Sie klingen aber glücklich.
Ich bin zufrieden. Wie früher bin ich mein eigener Chef. Ich will die Zeit mit meiner Tochter, die ich inzwischen bekommen habe, genießen. Mein Sohn musste während der Karriere ja viel zurückstecken. Hin und wieder tut mir mein Körper mal weh. Wer so lange Leistungssport betrieben hat. . . Naja, da kommt man wohl nicht drum rum.
Kumbernuss: "Lijiao Gong ist Medaillenkandidatin"
Wer gewinnt denn die Goldene im Kugelstoßen in Tokio?
Lijiao Gong ist auf alle Fälle eine Medaillenkandidatin. Die Amerikanerinnen sind Wundertüten.
Und bei den Männern? Ryan Crouser hat den Weltrekord geknackt.
Wir haben uns das Video aus dem Netz geholt und vor- und zurückgespult. Technisch ist der eine Granate und körperlich hat er beste Voraussetzungen. Das war schon: boah! Auf das Finale der Männer freue ich mich sehr.
Und Ihr Schützling, Claudine Vita, wie schneidet sie ab?
Das Ziel ist, die Quali zu überstehen und danach in die Top-8. Einfach wird das nicht, alle drei deutschen Starterinnen haben dieses Ziel. Claudine ist die Jüngste der drei. Es wird alles anstrengend. Sie muss solche Sachen ablegen, sonst verliert man nur unnötige Energie. Sie soll sich auf den Wettkampf freuen und immer fit in den Beinen sein. Und dann: rein und machen.