Armin Hary im AZ-Interview: "Ich verstehe die Welt nicht mehr"

AZ-Interview mit Armin Hary Der jetzt 84-Jährige holte bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom Gold über 100 Meter und in der Staffel, kurz zuvor war er als erster Mensch der Welt die 100 Meter in 10,0 Sekunden gelaufen. 1961 beendete er seine Karriere.
AZ: Herr Hary, wie viel Interesse wecken denn diese Olympischen Spiele bei Ihnen, dem Doppel-Olympiasieger von 1960, dem ersten Menschen der Welt, der die 100 Meter in 10,0 Sekunden gelaufen ist?
ARMIN HARY: Nun, ich bin niemand, der jetzt 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche vor dem Fernseher sitzt und nur Sport schaut, dafür lebe ich viel zu gerne. Wenn jetzt dann die Leichtathletik endlich losgeht, werde ich sicher etwas mehr schauen, aber alles in allem muss man sagen: Olympische Spiele ohne Zuschauer, das ist eine Katastrophe. Wer auch immer für diese Entscheidung verantwortlich ist - und ich will jetzt keine Namen nennen -, der gehört. . . Lassen wir das. Ich sage so viel: Es ist offensichtlich, dass bei der Entscheidung, diese Spiele trotz Corona stattfinden zu lassen, der Sport nicht im Vordergrund stand.
Ohne Usain Bolt fehlt dem Sprint ein Aushängeschild
Freuen Sie sich zumindest auf den 100-Meter-Lauf der Männer? Schließlich waren Sie ja zu Ihrer Zeit der schnellste Mann der Welt.
Klar, aber auch da muss man sagen, dass man den Überblick verloren hat. Seit Usain Bolt weg ist, fehlt dem Sprint ein echtes Aushängeschild. Bolt war sicher ein ganz Großer des Sprints, der Leichtathletik. Klar gab es bei ihm auch lange Zeit Fragezeichen. Warum muss so ein Mann zwei Mal im Jahr zu Ärzten nach München fliegen? Gibt es etwa dort, wo er herkommt und trainiert, keine Mediziner? Aber egal, er ist ein Großer, keine Frage.
Das waren Sie unzweifelhaft auch.
Danke. Wir waren sicher nicht die Langsamsten. Leider kann man die Zeiten von damals und heute nicht vergleichen. Wir haben uns 100 Meter lang in die Aschenbahn eingegraben mit unseren schweren Schuhen und den langen Spikes. Unsere Schuhe wogen 460 Gramm, die jetzigen 60 Gramm. 460 Gramm nach 100 Metern, das merkst hintenraus bei jedem Schritt. Aber ich freue mich über die Entwicklungen: der Schuhe, der Tartanbahn und dass die Athleten davon profitieren. Also fast alle, nur die Deutschen nicht. Das muss mir mal einer erklären, warum das so ist. Im Sprint spielen wir doch seit gefühlten Ewigkeiten keine Rolle mehr.
Armin Hary: "Den Sportlern bei uns fehlt die Wettkampfhärte"
Böse Zungen behaupten, da könnten Sie mit Ihren 84 Jahren fast noch mitlaufen.
(lacht) Ich will nicht sagen, dass Sie Recht haben. Aber Spaß beiseite. Ich verstehe die Welt eh nicht mehr. Wenn wir früher 10,2 Sekunden auf 100 Meter laufen konnten, dann konnten wir das an jedem Tag. An jedem Tag! Heutzutage läuft einer einmal die 10,0 und danach nur noch 10,3, das verstehe ich nicht. Vor allem: Warum werden die Rekorde dann immer bei irgendwelchen Kreisveranstaltungen ohne Fans aufgestellt? Den Sportlern bei uns fehlt die Wettkampfhärte. Wer zu den Besten gehören will, der muss sich eben mit den Besten messen. Und auch messen wollen. Das will heute keiner mehr.

Sie galten immer als Athlet, der seinen eigenen Kopf hatte.
Natürlich. Keiner kennt doch meinen Körper und meinen Kopf so wie ich! Keiner weiß doch besser, was gut für mich ist. Aber wenn jeder seine eigenen Positionen vertritt, braucht es auch keine Funktionäre, natürlich waren die nicht angetan, dass ich meinen Kopf hatte. Wenn einer mich mit Wissen auf einen möglichen Fehler meinerseits hingewiesen hat, dann habe ich mir das sicher angehört und meine Gedanken gemacht. Aber wenn einer nur aufgrund eines Amtes glaubt, dass er besser weiß, was gut für mich ist, dann konnte ich schon deutlich werden. Es ist auch sicher so, dass ich einige Dinge gemacht habe, die vielleicht nicht mit der olympischen Idee im Einklang standen.
Etwa Ihre Anreise zu Olympia 1960 in Rom...
Stimmt. Ich bin nicht mit der gesamten Mannschaft angereist, weil ich wusste, dass es nicht gut für mich ist. Wenn ich acht Tage im olympischen Dorf sitze und Däumchen drehen muss, hätte ich einen Koller gekriegt. Also bin ich daheim geblieben und habe dort so trainiert, wie ich es für richtig gehalten habe - und bin dann allein angereist. Die Fotografen warteten trotzdem schon auf mich, weil ich ja gerade erst Weltrekord gelaufen war. Aber ich hatte mich so dermaßen als Tourist verkleidet, dass mich keiner erkannt hat. Als ich dann mit dem Taxi im Olympischen Dorf ankam, hatte man den Pförtner schon informiert, dass ich nicht mit dem Team angereist war. (lacht)
"Es geht für mich nicht nur ums Teilnehmen, sondern ums Gewinnen"
Und dann holten Sie Doppel-Gold, das dürfte nicht jedem Funktionär gefallen haben.
Sagen wir so: Sie haben sicher für Deutschland, den Verband gejubelt - nicht unbedingt für mich als Person.
Sie beendeten dann 1961 Ihre Karriere. Wäre ein Start bei den Olympischen Spielen 1964 damals in Tokio ohne Ihre Fehden mit den Funktionären denkbar gewesen?
Eher nicht. Ich habe ja bereits 1957, '58, '59 Höchstleistungen gebracht. Das ist schon eine lange Zeit, das über acht Jahre zu schaffen, ist kaum möglich. Und nur hinterherzulaufen, das war nie das meine. Es geht für mich nicht nur ums Teilnehmen, sondern ums Gewinnen.
Eine besondere Erinnerung an Japan haben Sie aber doch.
Das stimmt. Bei den Spielen in Rom wurde mir von Gesandten des japanischen Kaisers eine Medaille aus purem Gold überreicht. Die hatte Tenno Hirohito für den ersten Menschen der Welt ausgelobt, der die 100 Meter in 10,0 laufen würde. Ich habe mich sehr gefreut, aber ich wusste auch, dass dies eine große Gefahr ist, denn der damals geforderte Amateurstatus sprach dagegen. Also habe ich mitten in der Nacht einen Funktionär aus dem Bett geholt, der - ich sage es mal so - sehr gerne auf Fotos zu sehen war. Er war dann ganz groß auf den Bildern drauf, die ihn und noch mit den Vertretern des Kaisershauses zeigten. So konnte er nicht nachher sagen, dass er die Medaille nicht genehmigt hatte. Ich glaube nicht, dass er wusste, dass das mein Hintergedanke der Aktion war. Aber so hatte ich kein Problem mit der Medaille, die ich immer noch habe.
Man muss sich eben zu helfen wissen.
Das kann man so sagen. (lacht)