Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel über den Fall Walijewa: "Das ist ein Super-GAU"

AZ-Interview mit Prof. Fritz Sörgel: Der renommierte Pharmakologe (72) aus Nürnberg zählt zu Deutschlands bekanntesten Anti-Doping-Experten.

AZ: Herr Sörgel, der Internationale Sportgerichtshof Cas hat gerade entschieden, dass die junge russische Eisläuferin Kamila Walijewa nun doch bei den Olympischen Spielen am Einzelwettkampf teilnehmen darf - trotz eines positiven Dopingbefundes. Viele Beobachter halten dieses Urteil für einen Skandal. Sie auch?
FRITZ SÖRGEL: Nein, denn es konnte ja leider gar kein anderes Urteil geben, weil es sich in dem Fall um das Versagen des Gesamtsystems handelt. Es hat einfach zu lange gedauert, bis das Testergebnis öffentlich wurde und das war der Ansatzpunkt für die Verteidigungsstrategie vor dem Sportgerichtshof.
Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel: "Das darf nicht passieren"
Wie kann so etwas passieren, die Probe wurde schließlich bereits am 25. Dezember bei den russischen Meisterschaften in St. Petersburg genommen und dann direkt zum zuständigen Doping-Labor in Schweden geschickt?
Das darf nicht passieren. Ja, es war Weihnachten und es gab wohl Corona-Fälle dort im Labor, aber dann sollte eben ein anderes zertifiziertes Wada-Labor diesen Job übernehmen. Denn auch wenn die Proben natürlich anonymisiert waren, ist doch klar, dass sich zu diesem Zeitpunkt darunter auch potenzielle Olympia-Teilnehmer befinden. Da muss ich doch die Ergebnisse so schnell wie möglich rausschicken.
Der Cas argumentiert, dass die noch minderjährige Athletin besonders geschützt werden müsse und ihr mit einem Startverbot womöglich ein "irreparabler Schaden" zugefügt würde. Müsste man aber nicht gleichzeitig fragen, welchen "irreparablen Schaden" dieses Urteil im Anti-Doping-Kampf anrichtet?
Dieses Urteil ist der Super-GAU. Denn es zeigt, dass der Anti-Doping-Kampf noch lange nicht so fortgeschritten ist, wie man immer behauptet. Klar in der Messung, in der Analytik, da sind wir schon sehr weit, aber das hilft ja alles nichts, wenn das ganze System krankt. Dass es in Laboren aktuell immer mal zu Personalausfällen kommt, ist ja angesichts der weltweiten Omikron-Lage wirklich nicht überraschend. Da muss Ersatz gewährleistet sein, gerade vor Olympischen Spielen und besonders, wenn die Proben aus Russland kommen. . .
"Proben von Kamila Walijewa sollten erneut untersucht werden"
Im Körper der jungen Sportlerin wurde die Trimetazidin gefunden, ein Mittel, das die Blutversorgung der Arterien und damit des Herzmuskels erhöht und normalerweise bei einer Angina Pectoris eingesetzt wird. Kann so ein Medikament für eine eigentlich gesunde 15-Jährige nicht gefährlich sein?
Das ist nicht ausgeschlossen. Gerade bei einem jungen Organismus wissen wir doch gar nichts über die Wirkung und die Dosierung. Was es darüber hinaus schwer macht, die Situation einzuschätzen: Wir wissen ja auch noch nicht, ob sie es nur einmal speziell für einen Wettkampf genommen hat, oder regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Ich habe auch einige Kardiologen in Deutschland nach Trimetazidin gefragt, die kannten das Mittel gar nicht.
Wie müssten das Internationale Olympische Komitee und besonders die Weltdopingagentur Wada nun vorgehen, um den Schaden wenigstens etwas einzugrenzen?
Auf jeden Fall müssten die negativen Proben von Kamila Walijewa, die laut Rusada (Russische Dopingagentur, d. Red.) vor und nach dem 25. Dezember genommen wurden, nochmals mit einer empfindlicheren Messmethode untersucht werden, um festzustellen, ob eine chronische Einnahme vorliegt. Man kann die Empfindlichkeit im Labor gut um den Faktor fünf erhöhen, dann sehen sie auch kleine Konzentrationen im Urin, die auf dauerhaften Gebrauch hinweisen. Das wäre auch mit Blick auf die Gesundheit der jungen Sportlerin wichtig.
Warum?
Wir wissen ja nicht, wie Trimetazidin bei einer 15-Jährigen, die sich ja in einer ganz speziellen hormonellen Situation befindet, wirkt. Und wenn das Mittel die Trainingsleistung und vor allem die Regenerationsfähigkeit dauerhaft verbessern sollte und sie dadurch die vielen Stunden harten Trainings am Tag besser durchhält, liegt der Verdacht auf jeden Fall nahe, dass es chronisch verabreicht wurde - und dann ist es noch eine Stufe krimineller, weil dann auch mit schwereren Nebenwirkungen gerechnet werden muss.