Anne Haug: Grenzgängerin auf 400-Euro-Basis
Anne Haug geht im Triathlon an den Start – dabei schien Olympia vor einem Jahr noch unerreichbar für sie
MÜNCHEN An der Boje geht es am schlimmsten zu: Das Wasser spritzt, die Ellenbogen werden ausgefahren, Neoprenanzüge heimlich geöffnet, Schwimmbrillen vom Kopf geschlagen, Gegner einfach nach unten gedrückt. „Anfangs dachte ich, ich würde ertrinken”, erzählt Triathletin Anne Haug. Die 29 Jahre alte Münchnerin findet das rüpelhafte Verhalten ihrer Konkurrentinnen noch immer gewöhnungsbedürftig, „aber ich habe keine Angst mehr”.
Am 4. August um 9 Uhr soll Haug wieder ins Wasser springen, diesmal im Londoner Hyde Park: auf 1,5 Kilometern Schwimmen, 40 Kilometern Radfahren und 10 Kilometern Laufen geht es dann um olympisches Gold. Die 1,64 Meter kleine drahtige Sportlerin kann es noch immer nicht fassen, dass sie dabei ist. „Olympia, das ist das, wo ich den anderen im Fernsehen zusehe”, erinnert sich Haug, „und jetzt bin ich selber drin – irre!”
Erst vor einem Jahr hat die diplomierte Sportwissenschaftlerin den Sprung in die Triathlon-Weltspitze geschafft – und dann alles auf eine Karte gesetzt. „Ich wollte unbedingt zu Olympia. Aber eigentlich war das ziemlich unrealistisch, weil ich in der Auftaktdisziplin noch zu weit von der Weltspitze entfernt war. Da habe ich innerhalb von zwei Wochen meinen Umzug nach Australien organisiert, um mich dort der Trainingsgruppe von Darren Smith anzuschließen. Ich wollte mir nicht vorwerfen lassen, dass ich nicht alles versucht habe.” Der Schwimm-Guru aus Canberra machte es möglich: Vor fünf Wochen wurde Haug beim WM-Rennen in Madrid Vierte, damit hatte sie die Qualifikationsnorm des Deutschen Olympischen Sportbundes erfüllt. „Sieben Monate hatte ich für diesen einen Tag gelebt”, sagt Haug, die bei den Wettkämpfen so wunderbar fokussiert schauen kann.
Doch es war auch eine finanzielle Anstrengung. Ohne die Unterstützung ihrer Eltern Günter und Lieselotte wäre Olympia nur ein Traum geblieben. „Ich bin ihnen so unendlich dankbar”, sagt Haug, „sie mussten einen stolzen vierstelligen Betrag dazuschießen.” Miete, Reisen, Trainer, Essen – das verschlingt viel Geld, „Sponsoren sind aber leider Mangelware”, sagt Haug. Von ihrem Verein, dem TV 1848 Erlangen, erhält sie pro Monat 400 Euro – und etwas Geld von der Sporthilfe. „Ich bewundere das, wenn ich sehe, wie meine Freunde mit ihren Berufen fest im Leben stehen”, sagt Haug.
Sie dagegen lebt ihren Traum. In den Schweizer Alpen, im Höhentrainingslager in Davos, bereitet sich die gebürtige Bayreutherin auf London vor. „Trainieren, essen, Physio, schlafen – um diese vier Dinge dreht sich oft mein ganzes Leben.” Morgens um zehn nach sechs geht es los, abends um halb zehn ist Schluss, dazwischen liegen drei Trainingseinheiten – manchmal kommt sich Anne Haug vor wie in einem Hamsterrad. „Ich bekomme Unterstützung von einem Psychologen, und von meinem Freund Beni. Er gibt mir seit 13 Jahren den nötigen Rückhalt”, erzählt sie. Die Psyche spielt beim Triathlon eine entscheidende Rolle. „Für den Sieg musst du bereit sein, alles zu geben und im Ziel sprichwörtlich tot umzufallen”, sagt Haug.
Sie ist eine Grenzgängerin zwischen Erfolg und Kollaps. In London wird sie es noch schwerer haben: „Die Radstrecke hat keinerlei Hügel, an denen ich an die Spitze heranfahren könnte. Im optimalsten Fall habe ich nur 40 Sekunden Rückstand, wenn ich aus dem Wasser komme”, sagt Haug, „daher setze ich mir lieber kein Ziel. Wenn ich am Start stehe, will ich einfach in der Form meines Lebens sein.”