Anke Rehlinger: "Politik ist wie ein Siebenkampf"

AZ-Interview mit Anke Rehlinger: Die 46-jährige SPD-Politikerin ist seit April Ministerpräsidentin des Saarlandes, in ihrer Jugend war sie Landesmeisterin im Kugelstoßen in ihrem Bundesland.
AZ: Frau Ministerpräsidentin Rehlinger, Ihre 16,03 Meter von 1996 sind noch heute saarländischer Rekord im Kugelstoßen. Worauf kommt es in dieser Sportart denn an?
ANKE REHLINGER: Auf Physis, Koordination und Schnellkraft. Das alles in der richtigen Balance auszutarieren, mit stabiler Technik und geistiger Spritzigkeit, das führt an maximale Weiten heran. Dazu sollte man eine aufgebaute Vorspannung mit maximaler Geschwindigkeit auflösen und die Kugel in einem optimalen Winkel zwischen 37 und 41 Grad abstoßen. Dann hat man schon viel richtig gemacht.
Für die internationale Spitze reichte es nicht
Hatten Sie nie von der großen Karriere geträumt? Von Olympia 2000 in Sydney oder Athen 2004? Mit Mitte 20 wären Sie im besten Alter gewesen.
Naja, ich war schon immer mit einer gehörigen Portion Realismus unterwegs. Deswegen wusste ich, bei den Deutschen Meisterschaften reicht es für Platz 7 oder 8, aber niemals für die internationale Spitze. Und als mir dann am Ende meines Rechtswissenschafts-Studiums klar war, dass ich vom Kugelstoßen bestimmt nicht leben kann, absolvierte ich mein zweites Staatsexamen. Dann kam die Politik, darauf habe ich mich konzentriert. Leicht fiel der Abschied aus dem Leistungssport aber sicher nicht.
Mit der Erfahrung aus beiden Welten, was braucht es im Sport wie in der Politik?
Durchhaltevermögen und harte Arbeit, Begeisterungsfähigkeit, aber auch Leidensbereitschaft. Man muss von einer Idee oder einem Ziel überzeugt sein und die dann auch konsequent verfolgen. Eine Gemeinsamkeit ist auch, im entscheidenden Moment fokussiert und hellwach zu sein und eine Top-Leistung abrufen zu können. Etwa bei einer Sitzung oder einer öffentlichen Rede in einem bestimmten Augenblick die richtigen Worte in der richtigen Tonlage zu finden.
Die Unterschiede von Politik und Sport
Was ist der größte Unterschied dieser beiden Welten?
Die Leistung im Sport ist meist objektiver messbar. Da habe ich alle ein, zwei Wochen einen Wettkampf, und am Ende entscheidet das Maßband über meine Platzierung. In der Politik ist das anders, da sind die Folgen von guten und schlechten Leistungen nicht immer sofort erkennbar, sind oft eher Teil der politischen Interpretation und Meinungsbildung. Eine messbare Bewertung gibt es bei Landtagswahlen alle fünf Jahre, aber das ist schon ein sehr langer Anlauf.
Gibt es Ähnlichkeiten zwischen den Emotionen, wenn Sie wie zuletzt bei der Wahl im März bei der 18-Uhr-Prognose erfahren, dass Sie uneinholbar vorne liegen, und der Euphorie über einen Sieg bei der Meisterschaft im Kugelstoßen?
Tatsächlich ist das vergleichbar. Weil man lange Zeit auf dieses eine Ziel hingearbeitet, alles danach ausgerichtet hat, bis hin zu diesem einen Moment, bei dem die Zahlen aufgerufen werden. Das eine Ergebnis steht eben auf der Anzeigetafel im Stadion, das andere auf dem TV-Monitor bei ARD und ZDF. Die Freude über den Erfolg ist ähnlich, genauso wie natürlich die Frustration über eine Niederlage. Und in der Politik fängt die Arbeit nach dem Wahlsieg erst richtig an, im Sport ist nach dem Wettkampf ebenfalls vor dem Wettkampf.
Niederlagen - "gute Gelegenheit zur Reflexion"
So wie 2017, als Sie bei Ihrem ersten Anlauf auf Spitzenkandidatin der Saar-SPD deutlich gegen Annegret Kramp-Karrenbauer verloren.
Richtig. Aber Niederlagen bieten in Sport und Politik die gute Gelegenheit zur Reflexion, um sich zu hinterfragen: Was habe ich falsch gemacht, was sollte ich das nächste Mal besser machen, wo kann ich noch härter arbeiten? Umso erfreulicher, wenn es im zweiten Anlauf mit dem Erfolg klappt. Dann weißt du, an sich zu arbeiten und noch mehr zu investieren, hat sich bezahlt gemacht.
Mit welcher Sportart würden Sie Politik eigentlich am ehesten vergleichen?
Man braucht Ausdauer, ein gutes Reaktionsvermögen, manchmal einen schnellen Antritt. Da kommt viel zusammen. Am ehesten ähnelt Politik einem Siebenkampf in der Leichtathletik.
Es gibt viele Beispiele berühmter Sportler, die nach ihrer Karriere in die Politik wechselten, gab es da eine Persönlichkeit, die Sie beeindruckte?
Frank Ullrich, der Biathlon-Olympiasieger, der vergangenen Herbst bei der Bundestagswahl in Südthüringen das Direktmandat für die SPD holte.
Im Duell mit Maaßen
Im Duell mit seinem höchst umstrittenen CDU-Konkurrenten, dem früheren Chef des Bundesverfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen.
Ich fand und finde sein Engagement bemerkenswert, weil es dort darum ging, nicht nur Politik gestalten zu wollen, sondern auch ein Statement für die Demokratie zu setzen. Bei diesem Duell um dieses Mandat ging es sehr wohl um rechtsstaatliche demokratische Werte.
Wird der Sport aber nicht zu oft auch von der Politik instrumentalisiert? Es ist auffallend, wie sehr sich früher etwa Bundeskanzler wie Helmut Kohl oder Gerhard Schröder an die Fußball-Nationalmannschaft heranwanzten, gerade wenn zufällig Wahlkampf war.
Wenn sie sich wirklich damit identifizieren und sich als Repräsentanten der Gesellschaft wie viele Millionen anderer Bundesbürger ehrlich darüber freuen, sehe ich da kein Problem. Es sollte klugerweise nur nicht genutzt werden, um sich als Politiker mit dem Erfolg von Sportlern zu schmücken, so etwas wird aber auch schnell durchschaut - und geht nur selten gut.
Wie beim bedenklichen Auftritt von Frankfurts OB Feldmann, der den Eintracht-Spielern beim Empfang nach dem Europa League-Triumph den Pokal entriss.
Man sollte einfach immer schauen, dass man den eigenen Adrenalin-Spiegel im Griff hat.
Rehlinger über mündige Sportler
Umgekehrt gibt es viele Sportler, die sich von politischen Themen stark distanzieren. Exemplarisch die Winterspiele in Peking, als viele Athleten auf die Frage zu Menschenrechten nichts sagen wollten. Wären mündigere Sportler nicht wünschenswert?
Da gehöre ich zu denen, die es den Sportlern zugestehen, sich nicht zu äußern, gerade, wenn sie sich auf ihren Wettkampf konzentrieren. Anderseits würde ich mir auch wünschen, dass noch mehr Sportler mit ihrer Vorbildrolle ein Zeichen - zum Beispiel gegen Homophobie - setzen. Das Outing ehemaliger Sportler wie Thomas Hitzlsperger hat ja eine große Wirkung gehabt. Wobei mir am liebsten wäre, dass es dafür gar keinen Mut bräuchte, weil die sexuelle Orientierung ganz egal ist. Bei der WM in Katar sehe ich dabei vor allem die Funktionäre in der Pflicht.
Sie meinen DFB-Verantwortliche wie Präsident Neuendorf und Geschäftsführer Bierhoff?
Da habe ich die klare Erwartungshaltung, dass sie den Druck von den Sportlern wegnehmen und sich selbst klar gegen Homophobie und weitere Missstände in Katar positionieren.