Andreas Wellinger im Interview: "Wir sind schon ein Stück von den Besten weg"
AZ-Interview mit Andreas Wellinger: Der 27-Jährige ist zweimaliger Skisprung-Olympiasieger (2014, 2018) und Weltmeister 2017. Er gehört zum deutschen Kader bei der Vierschanzentournee.
AZ: Herr Wellinger, die Vierschanzentournee steht vor der Tür, das große Sporthighlight zum Jahreswechsel. Wenn Sie einmal zurückblicken und nicht allein auf die Weite, sondern auf das Gesamtgefühl schauen: Was war Ihr bisher bester Sprung in der Karriere?
ANDREAS WELLINGER: Da fällt mir auf jeden Fall der zweite Durchgang bei Olympia in Pyeongchang ein, mein Goldsprung, weil da einerseits die Emotionen extrem stark waren und andererseits der Sprung einfach wie an der Schnur gezogen von oben bis unten funktioniert hat.
Bei einem gutem Sprung "funktioniert der Automatismus"
Was bedeutet das für das Sprunggefühl, wenn es wie an der Schnur gezogen klappt?
Das ist das Spannende am Skispringen, dass man die Sprünge, die so gut funktionieren, schwer in Worte fassen kann, weil die so richtig passieren. Da funktioniert der Automatismus, da ist die Leichtigkeit im Absprung, der geht dann schön harmonisch in den Flug über, wo man nichts korrigieren muss oder bewusst aktiv beeinflussen möchte. Das macht so einen richtig guten Sprung aus, dass man eigentlich wenig spürt oder aktiv macht, sondern das Meiste einfach geschieht.
Ist es nach so einem Sprung dann immer wieder die Suche nach diesem Gefühl der Perfektion, nach diesem Automatismus?
Die Perfektion werden wir wahrscheinlich nie erreichen, weil wir immer wieder was finden würden, was noch besser hätte sein können. Aber definitiv nach diesen Automatismen, dass der Sprung quasi wie vom Fließband kommt. Das sind dann auch die Momente, wo wir vom Flow reden.
Je weniger Andreas Wellinger eingreifen muss, desto besser der Sprung
Es geht oft um eine Zehntelsekunde beim Absprung oder ein halbes km/h mehr oder weniger in der Anlaufspur oder minimale Unterschiede beim Anstellwinkel der Ski, um winzige Details. Lassen sich die denn überhaupt beeinflussen, wenn man sie erkennt?
Bewusst? Zum Teil, ja. Zum Teil, nein. Das ist eben dann genau das Spezielle. Je besser man das Gefühl in sich drin hat, sich automatisiert antrainiert hat, desto besser laufen die Sprünge.

Einen Automatismus, den man im Gespür hat, den versucht man nicht bewusst zu verändern. Dann ist es der Instinkt, der am Schanzentisch das Timing vorgibt oder der Rhythmus der Schanze. Genauso wenig oder nur sehr, sehr schwer kann man bewusst früh oder bewusst spät abspringen, weil in einem drin der Ablauf gespeichert ist, der dann auch die Absprungbewegung einleitet.
Lässt sich ein Sprung überhaupt aktiv korrigieren?
Es geht weniger um einen Punkt, zum Beispiel den Schanzentisch, sondern um ein Bewegungsmuster, das nach dem Schanzentisch im Kopf ist, im Gefühl ist. Wenn man das erreichen will, das funktioniert nur über den Absprung, der pünktlich an der Kante ist, weil alles andere immer zu Korrekturen führt. Wenn man zum Beispiel zu spät ist, dann ist ein Effekt davon, dass der Ski nach der Kante etwas steiler steht und der Automatismus, den wir uns über Jahre antrainieren, der versucht dann, den Körperschwerpunkt wieder in die richtige Lage zu bringen, in dem instinktiv, aktiv auf die Momente reagiert wird. Je weniger man eingreifen muss, desto effektiver ist der Sprung.
Wellinger will wieder mehr Stabilität in die Sprünge bekommen
Es gab bei der Tournee-Generalprobe in Engelberg einen Sprung, den haben Sie als "total geil" bezeichnet. Da hat es augenscheinlich prima funktioniert. Ist der Sprung Ihr Maßstab für die Tournee?
Das geht in die richtige Richtung, wo ich meinen Maßstab grundsätzlich legen will, dass genau diese Sprünge wieder mehr kommen, stabiler kommen. Mir sind leider bisher zu wenige Treffer gelungen, so wie eben in Engelberg der zweite im ersten Wettkampf oder einer in Kuusamo am zweiten Wettkampftag. Das Ziel ist, mir die Konstanz zu erarbeiten, dass es wieder vermehrt solche Sprünge gibt, die dann wiederum Leichtigkeit, Selbstvertrauen und dann das richtige Gefühl geben, diese Sprünge abzurufen.

Wie weit sind Sie, wie weit ist das deutsche Team vom polnischen Dominator Dawid Kubacki weg?
Schon ein Stück. Ich würde behaupten, dass wir momentan vor allem in der Konstanz ein Stück weg sind von Kubacki, Anze Lanisek, Halvor Egner Granerud und Stefan Kraft - die Vier springen einfach auf einem extrem hohen Niveau und vor allem konstant. Vereinzelt kommen die Sprünge, beim Karl ist immer mal einer dabei, bei mir. Wir haben also schon die Qualität in der Mannschaft, uns fehlt momentan noch die Qualität, das konstant abzurufen, dass auch mehrere Sprünge auf dem Niveau sind. Also in den Einzelsprüngen haben wir's - aber über die Konstanz werden dann auch die guten Einzelsprünge noch effektiver.
Andreas Wellinger glaubt an Chance für deutsche Springer bei der Vierschanzentournee
Was ist unter diesen Voraussetzungen für Sie selbst und das Team drin?
Drin ist wie immer alles, weil die Tournee nach einer kurzen Wettkampfpause für alle bei Null losgeht. Am Wichtigsten ist es, wie man dann in den ersten Wettkampf startet. Vom Gefühl, vom Ergebnis, wie man so in den Rhythmus reinkommt, wenn man zehn Tage am Stück unterwegs ist und fast jeden Tag springt. Wenn ich es, wenn wir es als Team schaffen, eben genau die Einzelsprünge konstanter abzuliefern, dann bin ich überzeugt davon, dass wir auch ganz vorn mitkämpfen können. Aber wirklich nur unter dieser Prämisse. Die Konstanz muss da sein, weil das internationale Feld zu stark ist, um sich Fehler erlauben zu können.
Wenn wir nochmal auf Sie persönlich schauen. Sie hatten nach einem beinahe kometenhaften Aufstieg und später der Krönung Einzel-Olympiasieg dann diese schwere Knieverletzung. Es hat lange gedauert, bis Sie zurück waren. Ist der Körper seither anfälliger geworden? Gibt es ein Davor und ein Danach?
Schwer zu sagen, aber es gibt definitiv ein Davor und Danach. Allein schon, weil ich mir das Körpergefühl ganz neu erarbeiten musste und der Körper auch ein anderer wird, wenn er wieder zusammengeflickt ist. So nenne ich es jetzt mal. Was nicht gleichzeitig heißt, dass es schlechter sein muss. Ich glaube aber schon, dass der Körper mit mehr Verletzungen anfälliger wird und immer mehr Aufmerksamkeit, bewusstes Aktivieren und Trainieren braucht, um wieder auf dem hohen Level sein zu können. Ich hoffe einfach, dass meine Verletzungshistorie auch irgendwann ein Ende hat und ich mich mehr und noch besser auf Skispringen und das Training konzentrieren kann, als nur immer wieder irgendwelche Baustelle zu beheben.
Wellinger will bei der Tournee "die Trefferquote der guten Sprünge erhöhen"
Tournee und die WM in Planica. Gibt es eine Priorität oder sind beide gleichrangig in ihrer Bedeutung?
Ich sehe es so, dass natürlich die Highlights mit der Tournee und der WM da sind. Aber die kann man nur auf einem hohen Niveau bestreiten oder etwas gewinnen, wenn man sich die Konstanz über den ganzen Winter erarbeitet. Der Saisonauftakt war bisher recht holprig, trotzdem haben wir bis zum 2. April noch eine unglaublich lange Saison, die längste, die wir je hatten. Und deswegen wollen wir sowohl bei der Tournee oder der WM gerne als Sieger vom Platz gehen, aber leider darf nur einer gewinnen, einer Zweiter und einer Dritter werden. Alles dahinter spielt eh weniger eine Rolle. Ich will mich stabilisieren und wenn das funktioniert, dann kommen auch die Ergebnisse leichter.
Das ist dann auch der persönliche Wunsch für die Tournee?
Genau, die Trefferquote der guten Sprünge zu erhöhen, weil dann macht Skispringen mehr Spaß, dann liest sich die Ergebnisliste besser und man kann einen Wettkampf mit einem noch besseren Gefühl beenden. Es wird immer unterschiedliche Tage geben, aber wenn ich den Weg in die richtige Bahn lenke, bin ich mir sicher, dass die Tournee mit einem Lächeln zu Ende gehen wird.