5000 Tests – ein Treffer: Londons kümmerliche Doping-Bilanz

Die Bilanz der Anti-Doping-Jäger in London ist erbärmlich– wenn sie denn stimmt.
von  dap

Die Bilanz der Anti-Doping-Jäger in London ist kümmerlich – wenn sie denn stimmt.

London - Experte Werner Franke hält selbst eine Vertuschungsaktion für nicht unmöglich. London (SID) Es sollte die größte Anti-Doping-Offensive der olympischen Geschichte werden, doch das Ergebnis mutet kümmerlich an. Etwa 5000 der 5500 angekündigten Tests hatten die Fahnder während der Spiele in London bis zum Freitag durchgeführt. Der einzige Sünder, der ihnen bei Kontrollen unmittelbar nach den Wettkämpfen ins Netz ging, war ein amerikanischer Judoka. Und Nick Delpopolo hatte nicht etwa mit Epo, Wachstumshormonen, Fremdblut oder Schlimmerem gedopt. Er war schlicht so dumm gewesen, sich kurz vor seiner Reise nach London ein paar Haschkekse zu gönnen.

„Ich bin schockiert, wie ineffektiv die Kontrollen sind“, sagt Doping-Experte Werner Franke im SID-Gespräch: 'Die sind in London da, wo sie in den 70er und 80er Jahren auch waren – ganz weit hinten dran." Sein Kollege Fritz Sörgel meinte angesichts der Bilanz: „Man muss davon ausgehen, dass im Hintergrund mehr läuft als angenommen und dass die Methoden der Zukunft schon Einzug gehalten haben.“

Naturgemäß sehen das die Verantwortlichen beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) anders. Thomas Bach jedenfalls wollte die Tatsache, dass das sündhaft teure Olympia-Labor in Harlow vor den Toren Londons weitgehend erfolglos vor sich hin analysierte, lieber positiv werten. „Die Fälle, die ich bisher in der Disziplinarkommission hatte, stammen alle aus dem Vorfeld der Spiele“, hatte der deutsche IOC-Vizepräsident in seiner Halbzeitbilanz gesagt, schon bevor er den Fall Delpopolo behandelte: „Offensichtlich sind die Zielkontrollen sehr wirksam, und ich denke, sie haben ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlt.“

In der Woche vor dem Beginn der Spiele waren etwa 20 Dopingfälle öffentlich gemacht worden, sie resultierten teilweise aus Tests, die lange vor den Spielen durchgeführt worden waren. „Wir warnen die Verbände. Es ist besser, wenn Athleten vor und nicht während der Spiele überführt werden“, hatte IOC-Chefmediziner Arne Ljungqvist der Süddeutschen Zeitung kurz vor Beginn der Spiele gesagt. Die überraschend freimütige Aussage des 81 Jahre alten Schweden lässt noch ein weiteres, auf den ersten Blick absurdes Szenario nicht unmöglich erscheinen: Es werden sehr wohl Athleten erwischt, sie kommen aus taktischen Gründen aber ungeschoren davon. Die SZ erinnerte in ihrem Bericht an eine Aussage von Juan Antonio Samaranch. Der Spanier hat demnach während seiner IOC-Präsidentschaft die Ausweitung von Anti-Doping-Programmen mit folgender Begründung abgelehnt: „Dann ruinieren die Skandale unser Image.“

Franke glaubt, dass sich an der grundsätzlichen Einstellung in der IOC-Spitze auch unter Jacques Rogge nichts geändert hat. „Ich habe große Zweifel, dass beispielsweise ein Dopingfall eines der britischen Volkshelden, die in London Olympiasieger geworden sind, öffentlich gemacht würde“, sagte er im Gespräch mit dem SID. Schon der Fall Ben Johnson, glaubt Franke, sei 1988 in Seoul nur öffentlich gemacht worden, „weil Manfred Donike im Kölner Dopinglabor so laut Alarm geschlagen hat, dass es niemand mehr überhören konnte“. Dem Heidelberger Molekularbiologen fällt es schwer, die Wettkämpfe in London ernst zu nehmen. „Schauen Sie sich die Silbermedaillen-Gewinnerin im Diskuswerfen an, Frau Pischtschalnikowa aus Russland. Die hat mal eine Dopingprobe mit Fremdurin manipuliert. Das fiel auf, weil jemand so blöd war, ihr vorher männliches Urin einzuführen“, sagt Franke.

Dass Pischtschalnikowa durch die folgende Dopingsperre – sie lief im April 2011 ab – bekehrt worden sein könnte, hält Franke für ausgeschlossen. „Die Unschuldsvermutung im Anti-Doping-Kampf gelten zu lassen“, sagt er, „ist einfach unintelligent.“ Erkenntnisse des Arztes Bob Goldman lassen vermuten, dass Franke mit seiner Einschätzung richtig liegt. Die Studie des Amerikaners, in der Anti-Doping-Szene als „Goldmans Dilemma“ umschrieben, ergab in mehreren Befragungen im Zwei-Jahres-Rhythmus ein immer ähnliches Ergebnis: Rund 50 Prozent der Hochleistungssportler sind bereit, innerhalb der kommenden fünf Jahre zu sterben, wenn ihnen die Einnahme eines Dopingmittels den Gewinn einer olympischen Goldmedaille garantieren würde.

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