300 oder 400 Meter? Skiflieger suchen das Menschenmögliche
Oberstdorf - Flugshow ohne Grenzen oder grenzenloser Wahnsinn? Am Skifliegen scheiden sich die Geister. Jene, denen es um ein Schneller-Höher-Weiter geht, scheinen dabei die Oberhand zu gewinnen: So oft wie in diesem Winter wurde noch nie in einer Saison geflogen.
Auch bei der WM in Oberstdorf werden die besten und tollkühnsten Flieger ab Freitag wieder in sportliche Grauzonen vordringen. Wo das Limit des Menschenmöglichen liegt, ist dabei weiter offen. "Es gibt kein Limit", behauptet gar der ehemalige Skiflug-Weltmeister Severin Freund. "Einst hat man gesagt, der Mensch könne nicht über 100 Meter weit springen, weil der Körper das nicht aushält", sagte Freund im Interview mit dem Trierischen Volksfreund: "Heute wären wir Athleten die ersten, die sagen, wir fliegen 300 Meter weit, wenn es eine Schanze dafür gibt."
Dabei gab es die bereits. 2011 hatte der auf Spektakel spezialisierte Brause-Gigant Red Bull eine riesige Naturschanze auf 3.000 Metern Höhe im Nationalpark Hohe Tauern installiert, um die 300 zu knacken, die "Werksspringer" Gregor Schlierenzauer und Thomas Morgenstern waren als Versuchskaninchen auserkoren.
Schmitt: "Limit hängt allein von der Größe der Schanze ab"
"300 Meter sind für einen Skiflieger möglich", sagte Schlierenzauer. Das Unternehmen wurde abgeblasen, weil Österreichs Skiverband seinen Topathleten aus Sicherheitsgründen die Freigabe verweigerte. Morgenstern beendete 2014 auch wegen eines schrecklichen Sturzes beim Flug-Weltcup am Kulm seine Karriere. Skifliegen ist eben nicht nur eine Sportart, die süchtig macht. "Ein Flug auf 245 Meter bringt eine Welle an Gefühlen, die durch den Körper schießen", sagte der deutsche Topadler Andreas Wellinger.
Auch Olympiasieger Martin Schmitt kann sich beim Skifliegen Weiten von bis zu 300 Meter vorstellen. "Das Limit hängt allein von der Größe der Schanze ab. Die Athleten könnten Sprünge landen, die noch um einiges weiter gehen", sagte Schmitt im Interview der Stuttgarter Zeitung.
"Ich sehe die Entwicklung im Skifliegen als Prozess, der dauert, zumal nicht geplant ist, in nächster Zeit neue Anlagen zu bauen", erklärte der 39-Jährige, der nach seiner aktiven Karriere derzeit als Experte beim TV-Sender Eurosport arbeitet.
Neben der Anlage im Allgäu gibt es nur vier weitere Flugschanzen auf der Welt. Für Flüge, die noch deutlich weiter gehen als bisher gesehen, fehlten nach Schmitts Meinung aber die Erfahrungswerte. "Die Anfahrts- und Fluggeschwindigkeit wäre enorm hoch, keiner weiß, wie das Material reagieren würde und wie hoch der Druck wäre, den die Athleten aushalten müssten", sagte Schmitt, der bei der Skiflug-WM 2002 Silber hinter Teamkollege Sven Hannawald holte.
FIS-Renndirektor Hofer: "Wollen keine Rekordjagd um jeden Preis"
Skifliegen ist auch eine Sportart, die ihre Kinder schnell frisst. Die Risiken, die das Abheben von den Riesenbakken mit sich bringt, hatte der Weltverband FIS bereits in den 1980ern erkannt und der Weitenjagd Einhalt zu gebieten versucht. 1986 entschied die FIA, den Weltrekord bei 191 Metern einzufrieren. Jeder Sprung, der diese Weite übertraf, wurde fortan als 191er gewertet, Wettkampf-Ergebnisse wurden zur Farce.
Spätestens seit 2011, als in Norwegen der umgebaute Vikersundbakken in Dienst gestellt wurde, war es vorbei mit der Zurückhaltung. Den Weltrekord hält mittlerweile der Österreicher Stefan Kraft mit 253,5 Meter, geflogen wird immer weiter, immer mehr. Im Olympiawinter stehen vier der fünf derzeit betriebenen Flugschanzen im Wettkampfkalender. Die olympische Normalschanze taucht hingegen nicht mehr im Weltcup auf.
Weiter, immer weiter - aber wohin? Physisch scheinen keine Grenzen gesetzt, das hatte der Grazer Universitätsprofessor Wolfram Müller schon in den 90ern theoretisch erforscht. "Beim Skifliegen nimmt der Springer ab 200 Metern einen fast konstanten Gleitwinkel ein. Vom Standpunkt der Physik und der Aerodynamik ist ein 400-Meter-Flug nicht auszuschließen", sagte Müller.
Dass solche Dimensionen auf absehbare Zeit Science-Fiction bleiben, resultiert aus praktischen Erwägungen, die nötigen Anlagen würden finanziell und strukturell jedes vertretbare Maß sprengen. "Wir wollen keine Rekordjagd um jeden Preis", sagte FIS-Renndirektor Walter Hofer: "Schließlich soll der Zuschauer nicht nur irgendwo einen schwarzen Punkt fliegen sehen."
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