Psychisch krank in den Vorruhestand

75 000 Menschen pro Jahr werden wegen psychischer Erkrankungen in Frührente abgeschoben. Für die Betroffenen und unser Land ist das eine Katastrophe
München - Immer mehr Arbeiter und Angestellte können wegen psychischer Probleme in ihrem Job nicht weiterarbeiten. Nach Krankschreibungen, mangelnden Behandlungsmöglichkeiten und widerstreitenden Gutachten landen sie mit durchschnittlich 49 Jahren in Frührente. Ihnen ist dann nur eines sicher: die Altersarmut. Denn auch nach der jetzt geplanten Reform der sogenannten Erwerbsminderungsrente bleiben ihnen nur gut 600 Euro monatlich zum Leben.
Die Psychotherapeutenkammer hat zu diesem Problem gestern neue Zahlen vorgelegt. Ihre Experten haben die Daten der Rentenversicherung und der Krankenkassen ausgewertet – das Ergebnis: 75000 Menschen wurden 2012 wegen psychischer Probleme in den „Vorruhestand“ geschickt. Das sind drei Mal so viele wie vor zehn Jahren. Seit mehr als zehn Jahren sind psychische Erkrankungen die häufigste Ursache dafür, jemanden aus gesundheitlichen Gründen in Rente zu schicken. Und der Abstand zu körperlichen Gebrechen – wie Muskel-Skelett-Erkrankungen, Krebs oder Herz-Problemen – wächst.
Lesen Sie hier: So läuft der Weg zur Erwerbsminderungsrente.
Deswegen schlagen die Psychotherapeuten jetzt Alarm. Sie sehen eine mögliche Ursache in den „psychischen Belastungen der Arbeitswelt“. Anders als in traditionellen Industriebetrieben seien „Arbeitnehmer in Dienstleistungsbereichen höheren psychosozialen Belastungen ausgesetzt“. Zeitdruck, komplexe Aufgaben, große Verantwortung und Angst um den Arbeitsplatz – für immer mehr Menschen ist dies eine krank machende Kombination. Die Fakten zu einem größer werdenden Problem:
Wer ist betroffen?
Besonders Frauen gehen häufig wegen psychischer Probleme vorzeitig in Rente. Der Anteil der psychisch Kranken unter den Erwerbsminderungs-Rentnern beträgt bei Frauen fast die Hälfte. Bei Männern ist es lediglich ein gutes Drittel. Kaum eine Erkrankung setzt Arbeitnehmer früher außer Gefecht als eine psychische: Psychisch erkrankte Männer müssen schon mit 48,5 Jahren in Rente gehen, psychisch erkrankte Frauen mit 48,9 Jahren.
Um welche Krankheiten geht es?
Es sind vor allem Depressionen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, die die Betroffenen arbeitsunfähig machen. 16 Prozent aller Frühverrentungen sind auf Depressionen zurückzuführen – das ist der größte Einzelblock unter allen Diagnosen. Von den Menschen, die wegen psychischer Erkrankungen erwerbsgemindert sind, ist jeder Dritte davon betroffen. Seit 2001 haben sich die Fälle mit der Diagnose „depressiv“ verdoppelt.
Ebenfalls stark zugenommen haben die Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (plus 74 Prozent) und die Suchterkrankungen (plus 50 Prozent). Bei letzteren dominiert eindeutig der Alkoholismus. Süchte sind eher ein männliches Problem – bei jeder fünften Frühverrentung eines Mannes wegen psychischer Probleme ist dies die Diagnose. Bei Frauen sind es nur fünf Prozent. Dafür ist bei diesen der Anteil der Depressiven mit fast 45 Prozent deutlich höher als bei Männern (30 Prozent).
Welche Ursachen haben diese Zunahmen?
Wohl viele verschiedene. Die Studie schließt allerdings aus, dass die Zahl der psychologischen Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung in diesem Zeitraum gestiegen sind. Ärzte erkennen psychische Erkrankungen mittlerweile besser und psychisch Kranke suchen auch häufiger Hilfe. Allerdings, so bemängelt Kammer-Präsident Professor Rainer Richter: „Dass psychische Erkrankungen so häufig und so früh zu Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit führen, liegt auch daran, dass psychisch kranke Menschen nicht oder nicht rechtzeitig behandelt werden.“
Psychisch kranke Menschen warten in Deutschland rund drei Monate auf einen ersten Termin in einer psychotherapeutischen Praxis. Viele geben bei der Suche nach einem Behandlungsplatz auf und bleiben unbehandelt. In Deutschland erhält überhaupt nur jeder dritte psychisch Kranke eine Behandlung. „Für diesen Missstand findet das deutsche Gesundheitssystem seit Jahren keine angemessene Lösung. Wir brauchen dringend einen Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung“, fordert Richter. Neben biologischer Veranlagung und persönlichen Erfahrungen zeigen aber viele Studien und die Zahlen der Krankenkassen, dass hier offenbar Stress eine wichtige Rolle spielt: Das Arbeitspensum steigt ebenso wie die Informationsflut, der Termindruck nehme zu. Auch Multitasking belaste.
Das Fazit der Studie: Die Zunahme „kann einerseits auf verändertes Wissen und veränderte Einstellungen auf Seiten der Patienten als auch der Leistungserbringer (d.h. der Ärzte und Therapeuten, d. Red) und anderseits auf höhere psychosoziale Belastungen in der Arbeitswelt zurückgeführt werden“.
Was bedeutet das für die Betroffenen?
Neben der Angst um den Job findet sich der Kranke zudem noch zwischen den Mühlen der Bürokratie wieder. Ist er einmal in Rente, droht ihm Altersarmut. „Psychisch kranke Frührentner werden praktisch abgeschrieben“, kritisierte Kammerpräsident Rainer Richter. Er kritisierte, die Kranken würden häufig unzumutbar zwischen Kranken- und Rentenversicherung hin- und hergeschoben. Die Kasse könne den Versicherten nämlich auffordern, einen Reha-Antrag zu stellen. „Auf diese Weise kann sie Ausgaben für Krankenbehandlung und Krankengeld sparen.“
Die Rehabilitation geht zu Lasten der Rentenkasse. Wenn ein Gutachter die Reha aber nicht als erfolgversprechend bewertet, werde aus dem Reha-Antrag automatisch ein Rentenantrag. Häufig landeten die Patienten aber auch wieder bei der Krankenkasse, weil sie andere Krankenbehandlungen bräuchten. Mit der Frührente steigt nach Darstellung der Kammer das Armutsrisiko der psychisch Kranken. Denn die Erwerbsminderungsrenten seien seit 2000 stark gefallen – auf zuletzt durchschnittlich rund 600 Euro pro Monat. Mehr als ein Viertel der erwerbsunfähigen Rentner lebe mittlerweile in Einkommensarmut. In Bayern bekommt diese Gruppe laut Sozialverband VdK etwas mehr Geld. Bei Unter-65-Jährigen ist die Lage besonders prekär: 1,1Millionen Menschen in diesem Alter beziehen Erwerbsminderungsrente – mehr als zehn Prozent muss der Staat mit der sogenannten Grundsicherung unter die Arme greifen, weil das Geld nicht zum Leben reicht. Dieser Anteil hat sich seit 2004 verdoppelt.
Wie sieht ein typischer Verlauf aus?
Die Krankmeldungen aufgrund psychischer Erkrankungen nehmen ständig zu – der Anteil der Tage, an denen ein Arbeitnehmer aus psychischen Gründen arbeitsunfähig war, hat sich von 2000 bis 2012 fast verdoppelt. Im Schnitt fehlte ein solcher Arbeitnehmer 34 Tage. Bis zu sechs Wochen erhält er eine Lohnfortzahlung, bis zu 78 Wochen Krankengeld. So schmilzt das ihm zur Verfügung stehende Geld beständig. Damit er im Arbeitsleben bleiben kann, würde der Kranke gerne eine Reha-Maßnahme machen. Die kann aber abgelehnt werden, wenn die Krankheit zuvor nicht ausreichend behandelt worden ist.
Ein Teufelskreis – aus dem jeder zweite Erkrankte in Frührente geschickt wird. Die Reha bekommt der Betroffene trotzdem nicht – laut Psychotherapeutenkammer hat nur jeder zweite psychisch kranke Frührentner in den fünf Jahren vor dem Rentenbescheid eine Reha-Leistung erhalten. Die Psychotherapeuten-Kammer fordert daher, den Grundsatz „Reha vor Rente“ stärker zu beherzigen und mehr ambulante Reha zu ermöglichen. „Es darf keinen Automatismus vom Reha- zum Rentenantrag geben“, sagt Richter.
Wie kann man das ändern?
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat die Bundesregierung zu klaren Regeln gegen zunehmenden Stress am Arbeitsplatz aufgerufen. „Wir brauchen eine Anti-Stress-Politik, damit Arbeit nicht länger krank macht“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Bereits Anfang 2013 hatten die Gewerkschaften eine Anti-Stress-Verordnung vorbereitet und darüber mit den Arbeitgebern und dem Arbeitsministerium verhandelt.
Eine Einigung war vor der Bundestagswahl gescheitert. Grünen-Gesundheitsexpertin Maria Klein-Schmeink forderte die Bundesregierung auf, sich der Missstände anzunehmen. „Wir brauchen dringend einen umfassenden Aktionsplan Seelische Gesundheit.“ Kammerpräsident Richter mahnte, die monatelangen Wartezeiten auf einen Therapieplatz müssten gesenkt werden. „Wir brauchen da gesetzliche Vorgaben.“ Die gibt es allerdings zum Teil bereits schon: im Arbeitsschutz. Gemäß der Vorschriften muss ein Arbeitgeber im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung schauen, inwieweit Stress und Arbeitsbelastung das psychische Wohlergehen der Angestellten gefährden. Die frühere bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer hat beispielsweise vor zwei Jahren die Überwachung dieser Regeln zur Sache der bayerischen Gewerbeaufsicht gemacht und die Beamten und Ärzte zum Erkennen von Burnout fortgebildet.