Wenn Märchen wahr werden: Susan Boyle bleibt wie sie ist
Sie sang, verlor und kollabierte. Susan Boyle galt als unausweichliche Siegerin. Nur sie konnte die "Britain's Got Talent"-Show gewinnen. Doch dann der Knall: Sie wurde nur zweite. Na und? Das Märchen lebt. Für AZ-Reporter Felix Rettberg ist es eines der besterzählten der letzten Zeit.
Sie ist die Ungeklonte. Unblondiert, ungestylt, für manche sogar unglaublich häßlich: Susan Boyle. Die 48-jährige, arbeitslose Jungfrau aus einem schottischen Kaff, mit der nur ihre Katze schmust.
Seit ihrem Auftritt in der Casting-Show "Britain's Got Talent" stand Boyles Welt Kopf und drehte sich rasanter als je zuvor. So schnell, dass sie nach ihrer überraschenden Niederlage im Show-Finale am Samstag nun die Nerven verlor, ein Glas nach einem Mitarbeiter der TV-Crew gepfeffert haben soll, fluchte ("Ich hasse diese Show!") und sich jetzt im Krankenhaus die verlorene Ruhe einer einst als harm- wie reizlos Belächelten zurück-erholt.
Schrei nach Zuneigung
In der letzten Strophe ihres Songs ("I dreamed a dream", und dann auch noch aus "Les Misérables", den Elenden), steckt der Schrei nach Zuneigung: "Ich hatte einen Traum, wie mein Leben sein sollte, so anders als diese Hölle, in der ich lebe". Deutlicher, lauter, verzweifelter geht's nicht. Und plötzlich schien wirklich alles anders zu werden. Was für ein Traum, der keiner mehr ist.
Der Schock muss tief sitzen: Wochenlang war Boyle der unbestrittene Favorit. Ihr Traum, einmal vor der Queen auftreten zu können, war keine Spinnerei mehr. Es schien tatsächlich möglich. Und das wähnte Boyle als sichtbare Krönung ihres ständigen Bemühens, anderen zu beweisen: "Ich habe doch was zu bieten".
Die Speckrollen zwischen der Elenden und den anderen schienen nicht mehr zu hindern, dass sie Menschen nahe kommt. Menschen wollten zu ihr. Sie war kein verboylter Mond mehr, der sich sehnt, dass andere ihr von ihrem Licht etwas abgeben, damit man sie sieht. Sie war nun Sonne Susan. In ihrem Glanz wollten andere schimmern: die Nachbarn, der Bürgermeister, die Juroren der Show. Sogar Hollywood-Stars wie Demi Moore, die sich rühmte, mit ihrer Twitter-Nachricht noch mehr rasanten Ruhm für Boyle herausgeholt zu haben.
Sie war die Susie Simple
Auch wenn Boyle kokettierte, sie wisse gar nicht, was es bedeute, wenn über 100 Millionen Menschen weltweit auf YouTube immer und immer wieder ihren Clip anklicken, hat sie es sichtbar und betont bescheiden genossen, dass im Stunden-Takt die eingeflogenen Journalisten auf ihrer Couch hockten. Bei ihr, die alle im eigenen Dorf auch als "Susie Simple" kannten.
Jeder pries sie plötzlich als Verkörperung der inneren Schönheit, die den Oberflächlichen mit ihren gebleachten Zähnen ihre Arroganz und ihren Zynismus wort- und absichtslos vorhielt. Der Trampel, der verblüffte und alle baff mit heruntergeklappten Kinnladen zurückließ, die vorher noch irritiert bis angewidert das Gesicht verzogen hatten. Aus ihnen allen machte das optische Biest Boyle fiese Fratzen und sie selbst wurde zur wahren Schönen stilisiert. Und die bekennend Beschämten bedankten sich auch noch für diese Lektion. Wow.
Manche bejubelten Boyle allein schon dafür, als schöne Stimme der Abgelehnten, der Benachteiligten, der Chancenlosen. Andere finden sie zumindest putzig-sympathisch. Und kaum einer riss sich nicht um dieses Aschenputtel mit Doppelkinn: Ob CNN-Talk-König Larry King oder Amerikas Talk-Hoheit Oprah Winfrey. Die Medien hatten ihr Märchen: Vom Schatten ins Licht.
Und damit das nächste Kapitel nicht kippt, hielt sich Susan an die Tipps, die die Profis ihr sanft doch nachdrücklich steckten: Änder nicht zu viel! Aus mit der grauen Boyle-Maus: Bloß nicht!
Sie hielt sich dran: Ein neuer Schaal, eine neue Jacke, ein bisschen dunkle Tönung ins krause Haar. Ihre Freundin ließ sie mit Rouge, Lippenstift und Pinzette an Wangen, Lippen und Augenbrauen pinseln, nachziehen und zupfen. Das war's. Dank Stylisten und einem Heer anderer Haut- und Haar-Trimmer sollte sich Susie nicht so simpel vom häßlichen Entlein zum schönen Schwan wandeln. Diese Stories sind schon zu oft erzählt. Boyle soll bleiben wie sie ist. Die Sensation: Sie darf. Das ist doch mal neu in einer Zeit, in der jeder zum ständigen Selbstoptimieren gedrängt und getrieben wird, bis er glaubt, es selbst zu wollen. Endlich war er da, der Anti-Star. Der angebliche.
Der Rausch hielt an: Fans und Fotografen belagerten das Haus, knipsten und feierten sie. Susan, Susan! Und dann das Aus. Bumm. Knock-out, Boyle.
Ausgerechnet eine Tanzgruppe schubste sie im Finale mit ihrer perfekten Choreographie vom Thron der Zuneigung. Durchtrainierte, schöne Menschen hatten sie wieder einmal besiegt. Sollte also alles wieder wie vorher sein?
It's time to sell the biggest dream
Lieb und brav wie sie ist, gratulierte Boyle den Siegern. Äußerte vorsichtig den Wunsch, trotzdem ein Album aufzunehmen. Das wird sie definitiv. Diesen Deal lässt sich kein Plattenboss entgehen: It's time to sell the biggest dream.
Etwas besseres als Boyles zweiter Platz hätten den Produzenten nicht passieren können: Das füllt die nächste Seite im Märchenbuch. Die Gefallene steht auf. Die wahren Guten, die wahren Schönen werden überleben. Irgendwie. Das Schöne daran ist: So unsicher, so überfordert wie sie jetzt ist, scheint Susan wirklich dazuzugehören.
Berechnend wirkte nie etwas an ihrem Auftreten. Sie spielte keine Rolle. Sie gab nicht die Bescheidene, sie ist die Bescheidene. In wenigen Monaten kommt die nächste Version eines Elenden, der sich gegen Vorurteile stemmt. So läuft die mediale Märchen-Maschine. Auch Susans 15 Minuten werden verblassen. Eine Ikone bleibt sie trotzdem.
Beiß dich durch, Susan. Bissig und verbissen wirst du nie. Denn so keck, so knuffig, so klein und dabei doch so groß sind nicht viele. Es ist platt, doch ich muss es sagen: Susan, I love you.
Felix Rettberg
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