Michael Jackson seit zehn Jahren tot: Ein hoher Preis für den Ruhm
Für Alex Gernandt ist ganz klar: "Es ist wie bei Lady Di: Jeder kann sich erinnern, wo er gerade war, als sich die Todesnachricht von Michael Jackson verbreitete. Er war der berühmteste Popstar der Welt, mit einer Milliarde Tonträger größer als David Bowie oder Prince und zu Recht 'King of Pop' genannt." Zum 10. Todestag am 25. Juni erinnert sich der Autor, Musik- und Medienberater, der Michael Jackson als Reporter und späterer Chef der "Bravo" sechs Jahre lang begleitet hat, an seine 16 Begegnungen mit dem Ausnahmekünstler.
AZ: Herr Gernandt, ist Michael Jackson die größte Popkultur-Figur aller Zeiten?
ALEX GERNANDT: Er gehört definitiv zu den Top 3, neben Elvis und den Beatles, auch was Verkaufszahlen und Einfluss betrifft. Elvis war der allererste Popstar. Er hat den Rock‘n‘Roll groß gemacht und dadurch die Welt verändert. Die Beatles waren geniale Songwriter, Michael Jackson der kompletteste Entertainer: Er war Komponist, schrieb Hits wie "Billie Jean", "Bad" oder "Earth Song", ein toller Sänger, begnadeter Tänzer, Stilikone und Revolutionär in Sachen Videokunst. Er holte Regisseure wie Martin Scorsese, Steven Spielberg, John Landis oder Spike Lee, um seine Ideen umzusetzen. Michael war der absolute Perfektionist. Einmal fragte ich ihn, warum er auf der Bühne nicht auch mal Klavier spiele? Er beherrschte doch Stücke von Tschaikowsky und Chopin. Aber er meinte bescheiden: "Dafür bin ich nicht gut genug!"
Michael Jackson schaffte mit Neverland eine Parallelwelt
Warum ist Michael Jackson eine Person, die die Menschheit spaltet?
Wahrscheinlich, weil er für viele nicht wirklich greifbar war, wie eine Kunstfigur wirkte, aus der viele nicht schlau wurden. Jackson war eine multiple Persönlichkeit, Kind und Erwachsener zugleich. Aufgrund seiner Berühmtheit hatte er keine Privatsphäre, so dass er sich mit "Neverland" einen Rückzugsort, eine Parallelwelt erschaffen musste. Erwachsenen in seinem Umfeld misstraute er, denn viele waren ihm gegenüber berechnend, Kinder jedoch nie. Sie sahen in ihm nicht den Megastar, sondern eher einen Spielkameraden. Er war mit ihnen auf Augenhöhe, aber meiner Meinung nach nie in anrüchiger Weise. Seine Botschaft, so er selbst, war Liebe, Respekt und Toleranz! Das meinte er ernst und lebte es in Songs wie "Man in the Mirror". Dass er vielen bedürftigen Kinder geholfen hat, Krebs-Operationen finanzierte, Krankenhäuser unterstützte, kommt oft viel zu kurz. Aber er hat nie PR daraus gemacht. Das war vielleicht ein Fehler.
Die Medien hat er immer kurz gehalten. Wie kam es, dass Sie ihn 16 Mal begleiten konnten?
Reporter-Glück. "Bravo" war eben ein auflagenstarkes Fan-Magazin, das Jacksons Zielgruppe bediente. Ich sah mich dabei als Mittler zwischen Künstler und Fans. Im September 1993 habe ich Michael in Istanbul im Inönü-Stadion bei seiner "Dangerous"-Tour erstmals den Goldenen Otto überreichen können. Zuvor hatte er nie Journalisten an sich rangelassen. Vier Wochen zuvor waren erstmals Kindesmissbrauchs-Vorwürfe aufgetaucht, und ich dachte: Jetzt platzt der Termin! Aber er wurde nicht abgesagt, denn der Award war eine positive Nachricht in schweren Zeiten. Über den Gold-Otto hat er sich sichtlich gefreut. Mit der Zeit entstand zwischen uns ein Vertrauensverhältnis, wohl auch weil ich ihm jede seiner "Bravo"-Storys Wort für Wort übersetzte.
Seelische Schäden durch Vater Joseph
War er ein so scheuer Typ, wie man sagt?
Ja und nein. Nach außen schon, privat dagegen war er oft fröhlich, verspielt und locker. Den Mundschutz trug er nur in der Öffentlichkeit, als eine Art Schutzschild gegen die Paparazzi und nicht aus Angst vor Bakterien. Um MJ zu verstehen, muss man sein Leben sehen: Er durfte nie Kind sein, musste ab fünf, sechs Jahren arbeiten, durfte nie mit anderen Kindern spielen oder auf Bäume klettern. Er war stets von Erwachsenen umgeben, musste arbeiten, funktionieren. Vom Vater wurde er zu Höchstleistungen gedrillt, weil der wusste, dass der kleine Michael der Rohdiamant der Jackson Five war. Michael blieb – bei allem Erfolg – ein selbstzweifelnder Mensch. Seine harte Erziehung hatte sicher auch seelische Schäden hinterlassen. Der Preis, den er letztlich für den Ruhm zahlte, war sehr hoch. Er nahm das hin und war sich bewusst, dass man außergewöhnliche Opfer bringen muss, um außergewöhnliche Kunst zu schaffen.
Was sagen Sie zu den Missbrauchsvorwürfen?
Das ist eine sensible, ernstzunehmende Angelegenheit. Die US-Dokumentation "Leaving Neverland" ist sehr einseitig aufgebaut, es gibt viele Ungereimtheiten auf Seiten der Ankläger, und ein Toter kann sich nicht mehr wehren. Pro Jackson spricht, dass er im Juni 2005 beim Prozess in den USA in allen Punkten freigesprochen wurde. Alle zehn Geschworenen der Jury haben unter Eid pro Michael gestimmt. Das FBI hatte Michael Jackson zuvor observiert, sein Anwesen Neverland mit 70 Mann durchsucht und keinerlei belastendes Material gefunden. Wade Robson hat damals auch vor Gericht ausgesagt – und zwar glaubhaft pro Jackson! Sollten seine jetzigen Vorwürfe zutreffen, hätte er einen Meineid geleistet. Und plötzlich zu behaupten, es ginge ihm nicht um Geld, entspricht wohl auch nicht der Wahrheit. Immerhin hatte er 2013 die Jackson-Familie auf 1,5 Milliarden Dollar "Schadenersatz" verklagt, was vom zuständigen Gericht abgelehnt wurde. Es muss also weiterhin gelten: Im Zweifel für den Angeklagten!
Brisante Doku über Michael Jackson im deutschen Fernsehen
Sie haben gesagt, Michael Jackson war Kind und Erwachsener zugleich. Hatte er nicht doch einen seltsamen Umgang mit Kindern?
Ich kann nur berichten, was ich erlebt habe, und da war nie etwas Anrüchiges im Umgang mit Kindern. Ich habe ihn während Tourneen in Kinderkrankenhäusern in Budapest und in Waisenhäusern in Bukarest begleiten dürfen und habe Michael erlebt, wie er Spielzeug verteilte und mit teils HIV-infizierten Kindern am Boden saß und gespielt hat. Das war keine PR-Aktion. Das Interesse wirkte echt. Er war ein Kinderfreund, weil er Kinder für unberechnend und unverdorben hielt.
Aber er hat ja durchaus seltsame Dinge gemacht, wie die plastische Chirurgie oder das Aufhellen der Haut.
Dass er zu viele Eingriffe vornehmen ließ, ist unbestritten. Seine breite Nase ließ er sich operieren, weil er schon in früher Kindheit von seinen Brüdern gehänselt wurde. Plastische Chirurgie ist aber nicht nur in Hollywood gang und gäbe. Es gibt mittlerweile ja kaum noch Künstler, bei denen noch alle Körperteile den selben Geburtstag feiern. Aber das ist jedem selbst überlassen. Und zur weißen Haut: Jackson litt seit Mitte der 80er Jahre an der Pigmentstörung Vitiligo, Weißflecken-Krankheit genannt. Daher hat er sich entschlossen, sich bleichen zu lassen, damit seine Haut gleichmäßig aussieht. Das hatte mit dem Vorwurf, kein Schwarzer mehr sein zu wollen, nichts zu tun. In seinem Hit singt er: "It don’t matter if you’re black or white." Michael Jackson ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Rassengrenzen völlig aufgelöst werden können.
Das begann schon mit seinen ersten Videos auf MTV.
Stimmt. MTV hat in den frühen 80ern nur weiße Künstler gespielt – keine Videos von Prince, keine von Tina Turner. Michaels Plattenboss Walter Yetnikoff sprach ein Machtwort: Wenn ihr bei MTV nicht Michaels "Billie Jean"-Video zeigt, nur weil er schwarz ist, dann kriegt ihr künftig auch keine Clips mehr von unseren weißen Top-Acts, den Rolling Stones, Bruce Springsteen und Cindy Lauper. MTV spielte schließlich Michael Jackson, und sein Album "Thriller" wurde zum Megaerfolg.
Jetzt aber boykottieren einige Sender seine Musik.
Das halte ich für falsch. Es fehlen einfach die Beweise. Die Wogen haben sich nach der "Leaving Neverland"-Doku schon wieder etwas geglättet. Die Ungereimtheiten der Ankläger haben sicher einen Teil dazu beigetragen. Und seine Fans halten zu ihm. Michael Jackson wird Ikone bleiben, gerade in dieser schnelllebigen digitalen Zeit, wo neue Stars eine viel kürzere Strahlzeit haben. Er ist nach wie vor präsent: Das Musical "Beat it!", für das ich als Berater tätig bin, ist deutschlandweit immer ausverkauft, bei Google gibt es zu Michael Jackson noch immer über zehn Millionen Suchanfragen pro Monat, außerdem ist er nach wie vor der umsatzstärkste tote Künstler.
Man kann sich gar nicht vorstellen, dass Michael Jackson alt geworden wäre.
Schwer zu sagen. Er hat gern gelebt, seine Kinder waren sein Ein und Alles. Wegen ihnen wollte er 2009 noch einmal auf die Bühne, da sie ihn nie live erleben konnten. Deshalb waren in London zehn "This is it"-Konzerte angesetzt, als endgültiger Abschluss seiner großen Konzertkarriere. Michael war des Tourens müde. Daher wollte er nur noch einmal an einem Ort auftreten, in London. Wegen der immensen Nachfrage hatten die Veranstalter ihn überredet, 50 statt nur zehn Shows in der O2-Arena zu spielen. Das sei ein neuer Weltrekord, sagten sie Michael, und das hat seinen Ehrgeiz geweckt. Aber der Erfolgsdruck war enorm. MJ war Perfektionist, wollte die perfekte Show bieten. Dafür hat er in Los Angeles im Staples-Center hart trainiert. Er war gut drauf, wie man im "This is it"-Film" sehen kann, aber er litt unter Schlafstörungen und ließ sich vorm Einschlafen das Betäubungsmittel Propofol verabreichen. Der Leibarzt Dr. Murray, der übrigens vom Veranstalter engagiert worden war, damit MJ für die anstehenden Shows fit ist, gab es ihm, vergaß aber an jenem 25. Juni 2009, die Propofol-Kanüle rechtzeitig wieder zuzudrehen. So kam es zu einer fatalen Überdosis – und Michael musste sterben. Viel zu früh.