Michael Graeter: Der Kammerjäger der Nation

AZ-Serie, Teil 1: 40 Jahre vor dem Knast: Werner Friedmann holt Graeter aus der Provinz zur AZ. Wer damals zur Society gehört und was Sigi Sommer ihm rät - der Vordruck seiner Memoiren gibt es hier.
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Michael Graeter in den 70er Jahren in Cannes: immer auf der Suche nach den Schönen und Reichen
Graeters Leute-Buch Michael Graeter in den 70er Jahren in Cannes: immer auf der Suche nach den Schönen und Reichen

AZ-Serie, Teil 1: 40 Jahre vor dem Knast: Werner Friedmann holt Graeter aus der Provinz zur AZ. Wer damals zur Society gehört und was Sigi Sommer ihm rät - der Vordruck seiner Memoiren gibt es hier.

Tief und wohlig schlummere ich in den Daunen meines Doppelbetts im Zimmer 33 im ersten Stock des Tivoli. Wie jede Nacht läuft der Fernseher nonstop. Ich brauche die Berieselung, bei absoluter Stille kann ich nicht einschlafen. Um 6.42 Uhr fällt plötzlich eine Art Fallbeil. Drei wildfremde Männer umstellen mein Bett und beugen sich über mich. Ein Überfall? Ein neuer Traum? Ein Fernsehkrimi? Drei grimmige Gesichter starren mich an. Mit einem Schlag bin ich hellwach. Die Männer tragen Uniformen.

Polizei“, stellen sich die jungen, durchtrainierten Ordnungshüter in dunkelblauen Kampfanzügen vor. Die Schweizer Polizei steht in meinem Schlafzimmer. Ich fühle, wie ich zu zittern beginne.

Stimmen quäken aus den Funkgeräten, es rauscht und piepst. Der Anführer des Trios, der mit seinem Kurzhaarschnitt wie die Züricher Regionalausgabe von Mel Gibson wirkt, zückt einen Plastikausweis und meint freundlich, aber bestimmt: „Herr Graeter, ziehen Sie sich jetzt an. Sie sind verhaftet.“ Mich erfasst Panik, mein Blut gefriert in den Adern. „Wie bitte, was ist los? Habe ich was verbrochen? Das muss ein Missverständnis sein“, stammle ich.

Mit einem Zweitschlüssel, ohne lang zu klopfen, sind die Polizisten in meine Schweizer Bleibe eingedrungen. Sie geben mir das Gefühl, jetzt einen Schwerverbrecher dingfest zu machen. Wilde Gedanken schießen mir durch den Kopf, immer mit dem Trost, dass sich der Irrtum gleich klären wird. Aber nichts von alledem.

Ich darf ab sofort nicht mehr telefonieren, nicht mit meiner Frau, nicht mit einem Anwalt. Ich bin ein Gefangener. Während zwei Beamte den Raum durchsuchen, den Schrank öffnen und meinen Schreibtisch filzen, präsentiert mir der junge „Mel Gibson“ einen Brief. Absender ist die bayerische Justiz. Das Schreiben ist datiert vom 28. Dezember 2007 und die letzte Amtshandlung eines Herrn Seitz, der danach in Pension ging, wie ich später erfahre.

Mit diesem Schreiben aus München werden die eidgenössischen Behörden aufgefordert, mich auszuliefern. Dass es so spektakulär verläuft, habe ich wahrscheinlich einem Schweizer Landpolizisten zu verdanken. Er macht als kleiner Casanova von sich reden, weil er mit den Kellnerinnen per SMS flirtet. Er wird daraufhin in den Innendienst versetzt. Ich habe ihn nicht verpfiffen, obwohl sich im Massenblatt „Blick“ eine Schlagzeile mit „Liebestoller Polizist“ gut gelesen hätte.

Der Anlass meiner Festnahme ist eine Bewährungsstrafe vor sechs Jahren wegen eines Wirtschaftsdelikts. Ich besaß fast 20 Jahre lang in Schwabing das Café Extrablatt sowie die Erlebniskinos Cadillac, Veranda und Aeroport FJS. Diese Strafe wäre längst Schnee von gestern gewesen, hätte man mir nicht einen Monat vor Ablauf der Frist einen Verstoß gegen die Bewährungsauflagen zum Vorwurf gemacht.

Ich sollte deswegen monatlich 30 Stunden in einem Altenheim oder einer Justizanstalt arbeiten, und zwar so lange, bis rund 3500 Euro Arbeitgeberanteile für Krankenkassen entrichtet seien, die ein Geschäftsführer meiner Firmen nicht einbezahlt hat. Als man mich wegen seines Versäumnisses zur Verantwortung gezogen hatte, meinte der Richter lakonisch: „Sie müssen sich eben besseres Personal suchen.“

***

Angefangen habe ich ganz ohne Personal als Journalisten in Mindelheim, damals in den 60ern. In meinem ersten Sommer in der Provinz herrscht die übliche Saure-Gurken-Zeit, so der Pressejargon für den Zustand der Nachrichtenstille. Ich brauche Action. Mir gelingt es, einen weltweiten Wirbel auszulösen, als ich eines frühen Morgens zwei „stille Örtchen“ mit ausgesägten Herzchen auf dem Hauptplatz in Mindelheim aufstellen lasse, wo eine zentrale Bushaltestelle mit Toilette und Wartehäuschen errichtet werden soll. Ein Projekt, das schon seit Jahren geplant ist und worüber viel geredet wird, aber das man nie in die Tat umsetzte.

In der Druckerei lasse ich ein riesiges Plakat anfertigen mit dem Text: „Das dringende Kommunal-Bedürfnis von Mindelheim. Seit sieben Jahren geplant, aber nie verwirklicht. Rettet das Projekt.“ Ich sitze zwischen den beiden Bautoiletten, die mir die Baufirma Riebl ankarrte, auf einem Stuhl mit einem Kästchen für Spenden. Dahinter steht das große Plakat mit dem Aufruf an die Bürger. Ein ulkiges Bild. Fotografen und Kamerateams fahren vor, und Bürgermeister Krach ist so wütend über die „Häusl“-Affäre, dass er die Toiletten abtransportieren und zerhacken lässt.

Anderntags beschäftigt das Mindelheimer Kommunalbedürfnis sogar die Weltpresse. Auch die Münchner Abendzeitung füllt mit dem Stoff die ganze letzte Seite mit der Schlagzeile: „In Mindelheim darf man nicht müssen dürfen.“ Nach zwei weiteren Knüllern landet ein Brief von Werner Friedmann, Verleger der „Süddeutschen Zeitung“ und Abendzeitung, bei mir in der Provinzredaktion. „Die Späße, die Sie da in Mindelheim treiben, können Sie auch bei uns in München machen“, schreibt er und führt eine Gage an, die Lichtjahre von meinem damaligen Gehalt entfernt ist.

Von Beginn an habe ich zu Werner Friedmann einen guten Draht. Dieser Feingeist, der die Welt mit dem Herzen sieht, ist der einzige, der es mit Bayerns Power-Politiker Franz Josef Strauß aufnehmen kann. Wenn sich die beiden Herren, die nicht unterschiedlicher sein könnten, im Fernsehen duellieren, sind die Straßen leer gefegt. Friedmann zählt nach der bedingungslosen Kapitulation zu den wenigen, die von den Amerikanern nach dem Krieg die Zeitungslizenz erhalten.

Neben der „Süddeutschen“ kreiert er die Abendzeitung, eine etwas leichtere Kost, deren spezielle Boulevard-Mischung es so noch nicht gegeben hat. Außen auf dem Titel dominieren in dicken Lettern die Themen „Blut, Baby, Busen“, im Inneren des Blattes gibt man sich etwas gemäßigter.

Das Feuilleton der Abendzeitung unter Dorothea Federschmidt ist so brillant, dass sogar die „Frankfurter Allgemeine“ ständig auf ihren Kulturseiten nachziehen muss. Eine Schmach für jeden Vollblutjournalisten. In der AZ bekomme ich im Zimmer von Sigi Sommer, dem weißblauen Poeten, einen Schreibtisch. Man warnt mich, dass Sigi schwierig sei und es noch niemand lange mit ihm in einem Raum ausgehalten habe. Ich erfahre das Gegenteil.

Von Sommer, der aussieht wie ein Indianer, bekomme ich den journalistischen Feinschliff. Er gesteht mir von Mann zu Mann, dass er in der Wäsche von Hollywood-Diva Deborah Kerr gewildert hat. Sigi hat mehr als 99 Bräute auf dem Gewissen. Lange war er in Berlin zusammen mit seinem Kampfgefährten Teddy Stauffer als Gigolo tätig und verschaffte für fünf Mark einsamen Damen das Glück beim Tango. Seine Freitagskolumne „Blasius der Spaziergänger“, die er mit seiner Ameisenschrift aufs Papier kritzelt und die von seiner Sekretärin Benita Lindner abgetippt wird, ist der Hit der AZ. Es fällt deutlich auf, dass die Zeitungen in den stummen Verkäufern, ob bezahlt oder nicht, an diesem Tag stets vergriffen sind. Die Auflage der AZ bewegte sich damals zwischen 250 000 und 450 000 Exemplaren.

Ein anderes Kaufargument ist die täglich erscheinende Kolumne „Hunter notiert“ von Prominentenjäger Hannes Obermaier, der im Zimmer neben uns arbeitet und meist erst nachmittags kommt, weil der „Nachtdienst“ so lange gedauert hat. Erfunden hat er die Gesellschaftskolumne allerdings nicht, wie später oft behauptet wird. Diese Erfindung geht auf das Konto von Hans R. Beierlein, Autor der AZ-Kolumne „Filmtagebuch“.

Hunter perfektioniert nach dessen Abschied das Terrain. Er berichtet über die Leute beim Film sowie über die Gäste im Restaurant Humplmayr und kreiert Personen wie den Playboy James Graser, Salzbaron Adi Vogel, Schnorrerkönig Poldi Waraschitz und Thai-Generalkonsul Herbert G. Styler, der als einer der ersten in meinen Kreis wechselt, als ich 1970 die Kolumne übernehme und die Society-Palette ausweite auf Politik, Wirtschaft, Sport, Kunst und Adel.

Beierlein, der die Musikrechte des kommunistischen Kampfliedes „Die Internationale“ besitzt, macht später Karriere als Musikproduzent und Manager von Udo Jürgens. In der Steinzeit des österreichischen Sängerknaben, der in Schwabing mit Thomas Hörbiger und Frank Forster in einer Bude wohnt, entsteht aus purer Not das Lied „17 Jahr, blondes Haar“. Ein erster warmer Regen fällt auf den damals noch unbekannten Udo Jürgens.

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