Martin Wehrle: "Die Deutschen sind mit ihrer Arbeit verheiratet"

"Bin ich hier der Depp?" heißt der neue Ratgeber von Karriereberater und Bestsellerautor Martin Wehrle. Mit spot on news sprach er über den Führerschein für Führungskräfte, Burnouts und die fleißigen Deutschen.
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Der neue Ratgeber von Martin Wehrle "Bin ich hier der Depp?"
Mosaik Der neue Ratgeber von Martin Wehrle "Bin ich hier der Depp?"

Der Karriereberater über sein Buch "Bin ich hier der Depp?" und die Risiken von Arbeitsüberlastung.

In seinem Ratgeber "Bin ich hier der Depp?" (Mosaik, 400 Seiten, 14,99 Euro) erklärt Karriereberater Martin Wehrle, "wie Sie dem Arbeitswahn nicht länger zur Verfügung stehen". Der Nachrichtenagentur spot on news erzählte der Bestsellerautor im Interview, was die Chefs von seinem Buch halten, warum er den Führerschein für Führungskräfte fordert und die Deutschen besonders gefährdet sind, durch Arbeit krank zu werden.

"Bin ich hier der Depp?: Wie Sie dem Arbeitswahn nicht länger zur Verfügung stehen" von Martin Wehrle gibt es hier

Herr Wehrle, in Ihrem Buch "Bin ich hier der Depp?" geben Sie Tipps, wie Arbeitnehmer zu Ihrem Chef am besten Nein sagen und wie sie die Grenzen zum Privatleben abstecken und verteidigen können. Haben Sie schon Reaktionen aus den Chefetagen bekommen?

Martin Wehrle: Die Chefetage ist gespalten: Unter den mittleren Managern habe ich viele Fans. Denn sie stehen unter großem Druck, laufen auf dem Zahnfleisch und sind dankbar, dass mal einer die unsägliche Überforderung auf den Punkt bringt. Viele von ihnen haben kein Leben mehr, nur noch ein Arbeitsleben. Gerne würden sie das System verändern. Die anderen Manager, die gehobenen, sind weniger gut auf mich zu sprechen: Sie schielen vor allem auf den Profit - und wenn mal ein Mensch auf der Strecke bleibt, habe ich schon öfter Sprüche gehört wie: "Wo gehobelt wird, fallen Späne."

Sie fordern unter anderem auch einen Führerschein für Führungskräfte: Von selbst bewegen sich die Herren in den Führungsetagen meist nicht. Muss die Politik mehr klare Regeln setzen, um die Arbeitnehmer zu schützen?

Wehrle: Ja, das muss sie. Es ist doch ein Witz, dass jeder, der ein Mofa fahren will, einen Führerschein braucht, eine Qualifikation in Theorie und Praxis. Aber wer 100 Mitarbeiter führen will, braucht dazu nur: 100 Mitarbeiter. Von ihm wird keine Qualifikation verlangt.

Ein Burnout galt bisher immer noch als Zeichen der Schwäche - zumindest wenn es den einfachen Mitarbeiter erwischt und nicht den Chef, wie sie in Ihrem Buch darlegen. Haben Sie das Gefühl, durch die Ausbreitung von psychischen Erkrankungen, die durch Arbeit hervorgerufen werden, findet hier langsam ein Umdenken statt?

Wehrle: Das Umdenken bewegt sich im Schneckentempo, denn noch werden die Köpfe dominiert von einem Arbeit-über-alles-Denken. Als der fleißigste Mitarbeiter gilt derjenige, der bis tief in die Nacht schuftet und auch noch im Urlaub erreichbar ist. Er ist überall der Erste - leider auch in der Burnout-Klinik. Die ersten Firmen haben das begriffen. Andere lernen gerade schmerzvoll hinzu.

Sind die "fleißigen Deutschen" neben den Japanern im internationalen Vergleich besonders gefährdet, durch Arbeit krank zu werden?

Wehrle: Ja, die Menschen in Deutschland sind mit ihrer Arbeit verheiratet. Nicht umsonst stammen die häufigsten Nachnamen alle von Berufsbezeichnungen ab, ob Müller oder Meier, ob Fischer oder Jäger. Das Pflichtbewusstsein an sich ist ja eine gute Eigenschaft, nur muss jeder Arbeitnehmer lernen, auch gegenüber sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Nur wer seine Gesundheit schützt, kann für eine Firma dauerhaft erfolgreich sein.

Der Chef will mit seinen Mitarbeitern auf Facebook befreundet sein, Personaler googeln nach Job-Kandidaten, das Handy macht uns jederzeit für die Firma erreichbar und die Mails aus der Arbeit landen auch auf dem privaten Rechner - wie viel Schuld trägt die Digitalisierung an der zunehmenden Arbeitsbelastung?

Wehrle: Mit der Digitalisierung verhält es sich wie mit allen technischen Neuerungen: Nicht die Entwicklung an sich ist schlecht, nur der Umgang damit. Es ist wie mit einem Auto: Es kann Leben retten als Krankenwagen - und es kann Leben und Umwelt zerstören, wenn einer rücksichtslos rast oder die ganze Nation ihr Abgas in die Atmosphäre jagt. Tatsächlich ist es fatal, dass Mitarbeiter rund um die Uhr erreichbar sind. Der digitale Arm des Chefs kann sogar bis ins Schlafzimmer oder in das Urlaubsziel am anderen Ende der Welt greifen. Der Spannung folgt keine Entspannung mehr. Firmen müssen ihren Mitarbeitern das Recht einräumen, nach der Arbeit ihre digitalen Geräte auszuschalten.

Im August hat der Fall eines 21-jährigen Deutschen Schlagzeilen gemacht, der während eines Bank-Praktikums in London gestorben ist. Britische Medien spekulierten darüber, ob er sich zu Tode gearbeitet habe. Müsste man angehenden Arbeitskräften in Schule und Ausbildung schon beibringen, wie gefährlich Arbeit werden kann?

Wehrle: Wir müssen aufhören, die Schulen und Universitäten als Zulieferbetriebe zu sehen, die nur der Wirtschaft zu dienen haben. Im Gegenteil, jeder Schüler sollte von den Risiken erfahren, die das Arbeitsleben mit sicher bringt. Hier ist eine Kurzgeschichte von Heinrich Böll sehr zu empfehlen: "Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral". Nur wer diese Gefahren kennt, kann sich davor schützen.

In den meisten Firmen machen immer noch die Mitarbeiter Karriere, die sich über die Maßen engagieren und ihr Privatleben hinten anstellen. Glauben Sie, das kann sich in naher Zukunft ändern? Kann man die Tipps aus Ihrem Buch befolgen und trotzdem Karriere machen?

Wehrle: Es gibt zwei Sorten von Firmen: Solche, die noch blind den Arbeitswahn leben, und solche, die sich davon verabschiedet haben. Die zweite Sorte von Firmen hat erkannt: Es kommt nicht darauf an, wie lange ein Mitarbeiter anwesend oder erreichbar ist - sondern darauf, was er leistet. Diese Firmen - ich will sie "moderne Firmen" nennen - befördern gezielt Mitarbeiter, die durch ihr eigenes Arbeitsverhalten und ihren verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit den anderen Mitarbeitern ein Vorbild geben. Selbstverständlich kann man Karriere machen - und zwar nicht nur obwohl, sondern weil man sich abgrenzt. Nicht umsonst gehört das Wort "Nein" zu den häufigsten Vokabeln, die eine Führungskraft ausspricht. Nur wer seine eigenen Interessen gut vertritt, kann auch die der Firma gut vertreten.

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