Im Hamsterrad des Pop

„Sag, welchen Geschmack du magst, und ich habe ihn für dich“. Durchgefallen in der Reifeprüfung: Madonna gibt sich alterslos auf ihrer neuen CD.
von  Abendzeitung
Madonna gibt sich alterslos.
Madonna gibt sich alterslos. © nz

„Sag, welchen Geschmack du magst, und ich habe ihn für dich“. Durchgefallen in der Reifeprüfung: Madonna gibt sich alterslos auf ihrer neuen CD.

Die Zeit verrinnt auf einem gigantischen Display und keiner kann sie stoppen. Im Video von „4 Minutes“ springt Madonna auf Autos, tanzt in einem Supermarkt, rennt auf einem Laufband ganz fit mit Justin Timberlake, ihrem Tanzpartner. Und wenn sie in den Spiegel blickt, steht Timberlake gegenüber, als ob Pop-Narzissten nicht anders können, als sich zu reflektieren. Ein paar Timbaland-Beats dazu, schon lockt ewige Jugend, doch würde Madonna auf das hören, was sie singt, dann hätte vielleicht auch sie eine Gänsehaut: „tic-tac-tic-tac-tic-tac...“

Pop war schon immer Suchtmittel für all jene, die alles Vergängliche vergessen wollen, also wieso sollte die 49-Jährige nicht auf dem Dancefloor bleiben, nah am Beat der Zeit? Zum ersten Mal öffne sie ihre Beine auf einem CD-Cover, entdeckt die „Los Angeles Times“, als toughe Box-Queen inszeniert sie sich, und ihre Trainer haben unverkennbar ihre Handschriften hinterlassen: Timbaland und die Neptunes geben den gewohnt überdrehten Drive, ihre Beats haben einen militärischen Einschlag, der auch in Großvaters Beine fährt: „4 Minutes“ klingt wie Marschmusik vom Mars, atemlos wie fast jeder der zwölf Tracks.

Gleich zu Beginn, wenn man den Schock überwunden hat, dass die CD keinen Kratzer hat, sondern nur der Beat gebreakt wurde, ergänzt ein schneller Atmer den Rhythmus, als ob ein Langstreckenläufer für die Sound-Kollekte in ein Hamsterrad eingesperrt wurde. „Sag, welchen Geschmack du magst, und ich habe ihn für dich“, singt die Lollipop-Fee und lädt ein in den Super-Zuckermarkt des HipHops, wo alles zum Verkauf parat steht, auch die Illusion der Unverkäuflichkeit.

„Hard Candy“, das Wort wurde für Kinderpornografie geprägt, die Assoziation soll aber gen Ambivalenz gehen. Das Süße und das Harte, Kuschelromantik und Peitschensex waren bei ihr nie ein Widerspruch, sondern gleichberechtigte Spielarten menschlicher Sehnsüchte. Dass sie im Geschäftlichen zum Harten neigt, musste Warner spüren: Nach dieser CD wechselt Madonna für 120 Millionen Dollar zum globalen Konzertvermarkter Live Nation für zunächst drei Alben und vier Tourneen.

Zur Dance-Floor-Sause kommen knifflige psychologische Spielereien dazu: „Wenn du mich so sehen könntest, wie du dich selbst siehst, könnte ich so tun, jemand anderes zu sein“, singt sie in dem eher gemütlichen „Miles Away“ und schickt den Hörer auf die Reise in ihr Ich. Ein Album also zum Tanzen und Philosophieren. Wer ist der Meister, wer der Sklave, ist hier die Frage, auch im letzten Track „Voices“, und während sich Soundscapes über Madonnas Stimme auftürmen, weiß man genau, wer sich in den nächsten Monaten die Charts untertan macht – und das Ticken der Zeit dabei vergisst.

Michael Stadler

„Hard Candy“ (Warner)

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.