Große und kleine Flatter

Berlinale: Bosnische und irakische Kriegstraumata in Filmen aus Deutschland und Dänemark sowie ein fliegendes Baby des Franzosen François Ozon
Und was geschah dann?“, fragt Hannah Maynard, Anklägerin am Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ihre Zeugin Mira, eine junge Bosnierin, die sich mit ihrem deutschen Mann und dem Sohn ein neues Leben aufgebaut hat in Berlin, nach den Schrecken des Balkankrieges. „Was mit Frauen geschieht im Krieg.“ Die knappe Anwort schließt all die Dramen ein, die anonymen und öffentlich gewordenen _ Vergewaltigung, Folter, Mord.
Der Münchner HFF-Absolvent Hans-Christian Schmid präsentierte mit „Sturm“ den ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag der 59. Berlinale, zu Recht applaudiert von der internationalen Presse. „Sturm“ ist sein erster englischsprachiger Film und von bleibender Brisanz. Ein „Spiegel“-Artikel von 2002 und die Begegnung mit der deutschen Anklägerin am EU-Tribunal Haag, Hildegard Uertz-Retzlaff, der es gelungen war, Vergewaltigung als Kriegsverbrechen zu ahnden, hatten Schmid und seinen Co-Autoren Bernd Lange zu jahrelangen Völkerrecht-Recherchen und die Realisierung des anspruchsvollen Projektes inspiriert.
Kardazic und Milosevic kenntlich
Dieser Juristin ist die Figur der Hannah Maynard nachempfunden. Die Britin Kerry Fox spielt sie in brüchiger Balance zwischen smarter Durchsetzungskraft und Verletzlichkeit. Denn Hannah erkennt im Laufe des Prozesses, dass sie auch Gegner in den eigenen Reihen hat. Wie in der Realität steht das Tribunal unter Zeitdruck: Es soll nach Beschluss der UN sein Mandat 2010 beenden. Und Goran Duric, ein Befehlshaber der jugoslawischen Armee, der sich für die Deportation und Ermordung bosnisch-muslimischer Zivilisten verantworten soll, hat mächtige Freunde und gilt Serbien als Volksheld. Dass wir in ihm Milosevic und Karadzic sehen, ist wohl beabsichtigt.
Im Prozess gegen Duric hat sich ein Augenzeuge in Widersprüche verwickelt und beim Lokalaugenschein in Bosnien Suizid begangen. Hannah gibt nicht auf, gewinnt die Schwester des Toten, Mira (Anamaria Marinca), die nicht einmal ihrem Ehemann ihre traumatischen Erfahrungen in Bosnien offenbart, als Zeugin.
Von nun an sind die Frauen in höchster Gefahr. Und Durics Anwalt schafft auf höchster politischer Ebene einen „Deal“: Um den „General“ wenigstens wegen unstrittiger Verbrechen verurteilen zu können, werden andere aus dem Prozess ausgeklammert.
Hannah muss sich entscheiden zwischen Kompromissen oder ihrer Verantwortung der Wahrheit und Mira gegenüber, die auch anderen Opfern Durics eine Stimme geben will. Ein glänzend inszenierter, auch emotional überzeugender Film, der sicherlich bei der Bärenvergabe berücksichtigt werden könnte.
Annette K. Oelsens "Little Soldier"
Um Kriegstraumata und ihre Überwindung geht es auch in „Little Soldier“ der Dänin Annette K. Olesen („In deinen Händen“). Lotte (Trine Dyrholm) ist aus dem Irak heimgekehrt, wo sie im dänischen Truppenkontingent mitgekämpft hat. Eine kleine blonde Soldatin, die sich im Alltag daheim nicht mehr zurechtfindet, mit Wodka zuschüttet, in der verkommenen Wohnung verkriecht. Bis ihr Vater, ein Spediteur und Bordellbetreiber, ihr einen Job beschafft.
Sie soll seine Lieblingshure, die Nigerianerin Lily (Lorna Brown), im Jaguar zu den Kunden fahren. Die beiden können einander nicht ausstehen, aber die schlagkräftige Lotte beweist sich als Beschützerin gegen brutale Freier und echte Freundin.
Dann spielt sich Lotte als Retterin von Lily auf. Die will aber gar nicht gerettet werden, weil ihr Job bei Papa gar nicht so übel ist und Geld bringt, die kleine Tochter und die Mama daheim in Lagos gut zu versorgen.
Aber Lotte räumt Papas Safe aus, bringt die widerstrebende Lily zum Flughafen, auf den Weg in die „Freiheit“ – und erkennt, dass sie einen ganz persönlichen „Krieg“ mit dem Vater, der nach dem frühen Tod der Mutter nie für sie da war, angezettelt hat. Olesen packt Vater-Tochter-Konflikte, Kriegstraumata, Globalisierung, Menschenhandel, Prostitution und viel Psychologie in ihre Geschichte. Aber es funktioniert, weil der Film ehrlich und über weite Strecken sogar unterhaltsam ist.
Ein fliegendes Baby
Einen völlig entrückt fantasievollen Berlinale-Knaller liefert hingegen der Franzose François Ozon mit „Ricky“, einem aberwitzigen Genre-Mix aus Sozialdrama und Märchenkomödie über ein Baby, dem Flügel wachsen. Und das diese auch benutzt, erst im Kinderzimmer, wo es schon mal an die Scheibe knallt, dann zum Erkunden eines Supermarkts und zur großen Flatter in den Himmel. Verrückt, amüsant irritierend.
Angie Dullinger