Diskussionen um Sex-Skandale: Empörung oder Hysterie?

Wo hört ein geschmackloser Witz auf und wo fängt sexuelle Belästigung an? Diese Frage wirft Hollywood derzeit täglich auf. Ein Erklärungsversuch.
(ln/spot) |
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Nicht nur Hollywood wird von Sexismus-Vorwürfen wie von einem Tsunami überflutet. Die Nachrichten um sexuelle Belästigungen haben es in die erste Reihe der "bad news" (politische Krise in Spanien, Flüchtlingsdebatte in Deutschland, Terrorangriff in New York etc.) geschafft und erschüttern auch die Welt diesseits des Atlantiks.

Seit die Missbrauchs-Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein (65) bekannt wurden, melden sich täglich neue mutmaßliche Opfer zu Wort, die berichten, sie seien von bekannten Männern sexuell belästigt worden. Der Drehbuchautor und Regisseur James Toback (72) soll über 300 Frauen missbraucht oder gar vergewaltigt haben.

Von Spacey bis Hoffman

Unter dem Verdacht von sexueller Belästigung stehen "House of Cards"-Star Kevin Spacey (58) ebenso wie Oscar-Preisträger Dustin Hoffman (80), der vor 32 Jahren eine 17-Jährige bedrängt haben soll. Auch gegen "Rush Hour"-Regisseur Brett Ratner (48) wurden unappetitliche Vorwürfe der sexueller Belästigung erhoben. Gegen ihn sagen gleich sechs Frauen aus, darunter die Schauspielerinnen Olivia Munn (37) und Natasha Henstridge (43). Und nach wie vor stehen erhebliche Anschuldigungen gegen Star-Regisseur Woody Allen (81) und TV-Star Bill Cosby (80) im Raum.

In England hat sich der Rücktritt des britischen Verteidigungsminister Michael Fallon (65) nach Vorwürfen sexueller Belästigung zu einer mittleren Regierungskrise ausgewirkt. Fallon hatte im Jahr 2002 bei einem Abendessen am Rande eines Parteitags der konservativen Tories einer Journalistin seine Hand aufs Knie gelegt. Jetzt räumte er ein, sein Verhalten sei "vielleicht nicht angemessen" gewesen.

Vor ihm wurde dem Außenhandels-Staatssekretär Mark Garnier (54) sexuelle Belästigung von Untergebenen unterstellt. Er selbst hatte zugegeben, seiner Sekretärin den Kauf von zwei Vibratoren aufgetragen zu haben: Einer sei für seine Ehefrau bestimmt gewesen, der andere für eine Mitarbeiterin in seinem Wahlkreisbüro, behauptete die Zeugin. Der Politiker habe sogar vor einem Sexshop gewartet, in dem sie die Geräte kaufte.

Und im ägyptischen Fernsehen ruft der landesweit bekannte Jurist Nabih al-Wahsh zu Vergewaltigung aus. Dem Mann sind Jeans mit Rissen ein Dorn im Auge und er fordert allen Ernstes coram publico: "Wenn ein Mädchen so herumläuft, ist es eine patriotische Pflicht, sie zu belästigen und eine nationale Pflicht, sie zu vergewaltigen."

Wie kam es dazu?

Was ist los in unserer Geschlechterwelt? Ist das sogenannte starke Geschlecht verrückt geworden? Bekommen wir gerade eine unbelehrbare Verkommenheit des männlichen Teils unserer Gesellschaft vor Augen geführt, oder werden mal wieder die Reflexe der Massenhysterie bedient und - wie es der Medienjargon gern bildhaft und in diesem Fall vielleicht sogar passend beschreibt - eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben?

Man sollte schon ernsthaft aufhorchen, wenn die englische Premierministerin Theresa May die Reihe von Missbrauchs-Vorwürfen gegen britische Politiker zum Anlass nimmt, um mit den Parteivorsitzenden und Parlamentsvertretern im Abgeordnetenhaus über eine Veränderung der "Kultur" zu beraten.

Welche "Kultur" meint Theresa May? Die der Täter oder die der Opfer? Oder unserer Gesellschaft, die solche Übergriffe nicht mehr als Kavaliersdelikte hinnehmen mag? Meint May vielleicht die sorgsam gepflegte "Kultur" des Herrenwitzes in der abgeschotteten Tradition Londoner Clubs für Gentlemen?

Als solchen sieht offenbar Staatssekretär Garnier seine Ausfälle gegenüber der ihm untergebenen Sekretärin. Den Auftrag zum Vibratorenkauf ordnet er als "Blödelei" ein, die er mit einer "amüsanten Unterhaltung" über eine Sitcom vergleicht. Eine "Belästigung" sieht der dreifache Familienvater in den Vorfällen nicht. Er hat sich nicht darüber geäußert, wie groß die Idiotie und wie verkümmert das Geschmacksempfinden und Verantwortungsbewusstsein eines führenden Politikers sein muss, der einen solchen dienstlichen Auftrag "amüsant" findet.

Das sagt das Gesetz

Der Gesetzgeber hat das über die europäischen Grenzen hinaus wesentlich klarer definiert: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gilt als Mittel zur Machtausübung, bei dem ein Machtgefälle bzw. ein Abhängigkeitsverhältnis sexualisiert wird. Es ist ein unerwünschtes sexuelles Verhalten, bei dem eine Person Macht ausübt und die andere sich unwohl und in ihrer Würde verletzt fühlt.

Dem Gesetz nach ist sexuelle Belästigung mit körperlicher Berührung in Deutschland erst seit dem 10. November 2016 strafbar (§ 184i StGB). Vorher wurde die einschlägige Handlung nur in besonderen Fällen als Beleidigung (mit sexuellem Hintergrund) gem. § 185 Strafgesetzbuch verfolgt. Im Paragraphen 184i ist seit einem knappen Jahr festgelegt, dass mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft wird, wer eine andere Person in "sexuell bestimmter Weise" körperlich berührt und dadurch belästigt. Für eine sexuelle Belästigung ohne körperlichen Kontakt gilt der Straftatbestand der Beleidigung.

Eine Umfrage des Instituts YouGov hat ergeben, dass fast die Hälfte der Frauen (43%) in Deutschland schon einmal sexuell belästigt wurde. Und 18 Prozent der befragten Männer räumten ein, sich selbst so verhalten zu haben, dass ihr weibliches Gegenüber dies "als unangemessen oder sexuell bedrängend empfunden haben könnte".

Gleichwohl meint Matthias Enderle vom Männerrechts-Verein Manndat im Deutschlandfunk: Männer dürften in der Debatte nicht unter einen Generalverdacht gestellt werden. Enderle zweifelt auch die Gesamtzahl der Fälle an. Nach Ansicht des Männerrechtlers sollten "tatsächliche Fälle" angezeigt, juristisch aufgearbeitet und die Opfer therapeutisch betreut werden.

Warum erst jetzt?

Doch warum kommt bei diesen weltweiten Diskussionen, bei denen auch Zeugen und den Medien das jahrelange Verschweigen von sexuellen Übergriffen vorgeworfen wird, ausgerechnet bei einigen Männern das Gefühl auf, es handle sich dabei um eine breitgetretene und mehr oder weniger hysterische Kampagne gegen männliche Verhaltensweisen? Als Indiz dafür gelten Fälle, die bisweilen Jahrzehnte zurückliegen und die von den betroffenen Frauen erst jetzt bekannt gemacht werden. Die Frage sei doch: Warum habt ihr so lange geschwiegen?

Die Autorin Verena Lueken stellt in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" die treffende Gegenfrage: "Die Schwächsten hätten die Mutigsten sein sollen?" - und antwortet: "Vorwürfe an die Opfer in solchen Fällen sind immer die billigste Art, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Inzwischen aber, vielleicht seit die Namen der Opfer immer prominenter werden - Angelina Jolie darunter und Gwyneth Paltrow -, und mit den überwältigenden Solidaritätsbekundungen aus jenen liberalen Teilen Hollywoods und New Yorks, in denen sich Macht versammelt, nimmt die Sache eine andere Richtung an." Offenbar seien jene Strukturen, in denen diese Art frauenverachtenden Verhaltens gewachsen ist, stärker als das aufgeklärte liberale Selbstverständnis jener Kreise, in denen toxischer Sexismus eigentlich schon längst nicht mehr salonfähig ist.

Meint die Politikerin Theresa May in der "Veränderung der Kultur" eine grundlegende Veränderung des Machtgefälles zwischen Männern und Frauen? In der Unterhaltungsbranche, in der laut "FAZ" das weibliche Geschlecht "ad infinitum" über "ein durch und durch sexualisiertes Frauenbild" dargestellt wird, könnte es dazu führen, dass Positionen an den Schaltstellen der Macht mit Frauen besetzt würden und "damit das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, das offenbar viele im Unterhaltungsgeschäft noch für ein Naturgesetz halten", flacher sein würde.

"Kurz, eine andere Welt müsste her, wie sie in diesem Jahr und auch im nächsten wohl nicht erstehen wird", schreibt Verena Lueken. Es müsste außerdem "daran erinnert werden, dass der Präsident des Landes, in dem Weinstein vermutlich kein Jobangebot mehr bekommen wird, sich mit ganz ähnlichem Verhalten brüstete - und trotzdem gewählt wurde."

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