Der Klatsch-K(l)ick
Ob sie koksen oder sich fast ins Koma saufen, irgendwo ist stets ein Paparazzo oder falscher Freund, der Fotos oder verwackelte Filmchen davon online stellt. Die Nachfrage ist riesig: Für Millionen ist es ein schaurig-schönes Vergnügen, die Promis beim Abstürzen zu sehen.
Amy Winehouse schwankt, streicht sich verräterisch über die Nase. Owen Wilson läuft nach seinem Selbstmordversuch mit verbundenen Handgelenken den Strand entlang. Kate Moss torkelt beim Party-Marathon. Paris Hilton krabbelt auf allen Vieren und Lindsay Lohan ist high. Szenen einer (häufig inszenierten) Selbstzerstörung.
Das schaurig Schöne: Die ganze Welt schaut den Stars und Sternchen dabei im Internet zu. Ob sie koksen oder sich fast ins Koma saufen, irgendwo ist stets ein Paparazzo oder falscher Freund, der sie abschießt und die Fotos oder verwackelten Filmchen online stellt. Auf Klatsch- und Tratsch-Seiten wie tmz.com, perezhilton.com, superficial.com, femalefirst.uk.co...
Wie viele es sind, weiß niemand genau. Fakt ist, ständig werden’s mehr und die Celeb-Community wächst rasant. Online, und doch "in echt", beobachten pro Seite bis zu zehn Millionen Menschen weltweit täglich, welche Promis dem Tod näher sind als dem Leben.
Ein Klick, der für viele zum Kick wird – und Therapeuten alarmiert. In Amerika wird bereits von einer "gossip addiction" gesprochen, der Sucht nach Klatsch.
"Es ist offensichtlich ein Vergnügen, dem Untergang von Stars zuzuschauen", sagt David Nott von der Manor Clinic, einer Entzugs-Reha in Southampton. "Die Leute sagen sich: ,Der ist zwar reich, aber schlecht drauf.’ Es ist eine Form der ausgleichenden Gerechtigkeit."
Die meisten so genannt "meltdowns" meldet das Interview-Portal tmz.com. Breaking News waren hier zuletzt das Ende von Playmate Anna Nicole Smith im Februar 2007. Und ein Jahr später der überraschende Tod von "Brokeback Mountain"-Star Heath Ledger. Knapp drei Stunden danach wurde sein verhüllter Leichnam in Internet gezeigt und erst danach im Fernsehen.
„Abstürze sind interessanter als Rote-Teppich-Auftritte", sagt der Erfurter Kommunikationswissenschaftler Joachim Höflich zur AZ. "Ob die Gier nach Gossip immer exzessiver wird, lässt sich nicht sagen. Auf jeden Fall gibt es mehr Möglichkeiten als noch vor ein paar Jahren, diese Gier zu befriedigen.“
Dass manche Objekte der Begierde außer Präsenz oft keine Präferenzen vorzuweisen haben, findet Höflich bedenklich. "Bildung und Bildungssystem werden zurückgedrängt. Viele wissen zwar, welches Ei irgendein It-Girl zuletzt gelegt hat, nicht aber wie der deutsche Bundespräsident heißt." Dafür werde der Klatsch für viele Prominente zum Kapital. "Aufmerksamkeit ist in unserem Medienzeitalter eine Währung", so Höflich. "Wer in aller Munde und in allen Blogs ist, hat einen hohen Marktwert."
Dass die Promis die Gesundheit der Normalos gefährden, glaubt er nicht: "Durch ihre Dauer-Präsenz im Netz betrachten viele sie wie gute Bekannte, identifizieren sich mit ihnen, leben ihre Phantasien aus."
Und Kai Müller vom „Kompetenzzentrum für Verhaltenssüchte“ in Mainz sagt: "Die Sucht nach Klatsch entspricht dem weitverbreiteten angeborenen Voyeurismus, ähnlich den Gaffern bei Auto-Unfällen. Im Rahmen der Internet-Sucht ist sie bisher ein Mosaiksteinchen. Wenn die Gier aber ausufert wie online-gambling oder Rollenspiele, kann sie krank machen – zum Beispiel zu psychovegetativen Störungen führen."
"Den meisten geht es um die Flucht aus dem Alltag", sagt Christoph Schomberg, der 2002 die Seite "Promisichtung" ins Netz gestellt hat. "Promis sind eine ideale Projektionsfläche – vor allem für Schadenfreude."
Auf die setzt Perez Hilton, bürgerlich Mario Lavandeira, bekennender Schwuler und selbst ernannte "Queen of Mean", der Gemeinheit. Avril Lavigne ist für ihn "nuttig", Victoria Beckham eine "Außerirdische" und auf die Fotos von viertklassigen Sternchen kritzelt er gern "muss kotzen".
Der 29-jährige Gossip-Gangsta hat das Bloggen zum lukrativen Beruf gemacht und sich zum selbstgefälligem Hüter der Moral, Doppelbödigkeiten inbegriffen.
"Blogger können Meinungsmacher sein", sagt Experte Höflich. "In Amerika mehr als bei uns. Da kommt jeder Moment Öffentlichkeit sofort ins Netz. Die Quellen sind selten überprüfbar und die Grenzen zur Denunziation nicht weit."
Beim Gossip made in Germany hapert’s mit dem Angebot an Abstürzen. "Keinohrhase" Til Schweiger löst schon Paparazzi-Alarm aus, wenn er bei einer Premiere mit einer Blondine tuschelt. Die sich dann prompt als gute Freundin entpuppt. Und während Schweiger allein ins Bett fällt und sein Anwalt bereits Unterlassungserklärungen aufsetzt, klickt die Celeb-Community schnell wieder die amerikanischen und englischen Sites des Klatsches an. Da folgen die Fortsetzungen fast stündlich - reale Soaps, spannender und hochkarätiger besetzt als GZSZ und Co.
Denen kann sich auch Experte Höflich nicht entziehen: "Ich bin jeden Morgen im Internet. Wenn ich weiß, dass Britney Spears per SMS mit ihrem Freund Schluss gemacht hat, kann ich in meinen Seminaren punkten."
Renate Schramm