Das X-Cess: Münchner Freiheit mit Berliner Flair

MÜNCHEN - Das X-Cess im Glockenbachviertel ist liebevoll abgewrackt: Hier gibt es Lollis für die Mädels, eine "Titten-Tapete" und Bier statt Schampus- eben Münchner Freiheit mit Berliner Flair. Das war der "New York Times" sogar eine Story wert.
Es ist 23 Uhr, es ist voll, verraucht, etwas verrucht und verrückt sowieso. Das X-Cess. Die Kaschemme mit Schlagseite: Hammer und Sichel mit Edding an die Wand geschmiert, oben eine matte Discokugel, an zwei Wänden ein schwerer roter Vorhang, teilweise bedeckt von einem naiven Wandbild mit einer Ansicht von Rio.
Drunter und drüber geht's hier zu: Durch's Gewusel dröhnen dunkle Gitarren und scheppernde Zimbeln, Gäste liegen, kauern, hocken und stehen dicht gedrängt im Raum, tragen Sneakers und Chucks, Jeans, Nietengürtel und Band-T-Shirts unter Vintage-Sportjacken. Oben kriecht der Zigarettenrauch unter die Kastenbrillen und legt sich auf die Frisuren, die aussehen wie kurz nach dem Aufstehen.
Die Gäste sind jung, aber erwachsen. Anwälte, Kellner, Schauspieler und Banker, mit viel Arbeit, meist im Anzug. Tatort-Kommissar Udo Wachtveitl ist Stammgast, der Barmann hat ihn mit dem Handy fotografiert. Wachtveitl sieht so ramponiert aus wie das Dekor. "Liberal", nennt Kneipen-Chef Isi seine Kunden, "nicht so Schicki-Micki-Scheisse". Er selbst trägt eine sowjetische Generalsmütze.
Bier statt Bling-Bling: Im X-Cess geht's rau und echt zu
Das X-Cess ist Erholungsurlaub für Krawattenträger, die von pseudo-hippen Läden nix wissen wollen. Sie suchen Münchner Freiheit mit rauem Berliner Flair, zusammengewürfeltem Mobiliar, Löchern, Rissen und Rock. "Nicht so'n Lounge-Mist" - Isi hat's erfasst. Als er vor einigen Jahren in Berlin Döner verkaufte, merkte er, dass die Leute lieber trinken. Er zog nach München, eröffnete das X-Cess.
Bier statt Bling-Bling. Das gefiel auch Florian Süssmayr. Überm DJ-Pult vor der berühmten "Titten-Tapete" hängt ein Werk des Münchner Künstlers: "Scheiss Pils", nölt die weisse Schrift auf schwarzen Klo-Kacheln. Süssmayr kam und kommt oft hierher. Er sammelte Gekritzel aus der X-Cess-Toilette und stellte es sogar in New York aus. Isi hatte mal zwei Werke mehr in der Kneipe hängen, eines rissen Gäste mitsamt den Dübeln aus der Wand, eines ging ihm zu Bruch. "Pech!", schreit er durch die Menge, "ich habe ihn gewarnt!"
Unterm Bild legt Jan mit seinen Freunden Ossip und Daniel "Gogol Bordello" auf. "Passt ja zu diesem Etablissement", sagt der 30-Jährige. Sie haben lange drauf gewartet, im X-Cess ist jeden Tag ein anderer DJ dran. Dafür muss er sich vorher auf Isis Liste eintragen. Sie ist bis Jahresende ausgebucht. "Hier weisst du nie, was kommt. Es ist ein Überraschungsei für Erwachsene", sagt Jan. Er meint die Musik. Und die ganze Bude.
Isi weiss: Das suchen viele - und gewährt jedem Einlass. Einen Türsteher gibt's nicht. Und wenn es um Mitternacht so voll ist, dass keiner umfallen kann und sei er noch so blau, dann schiebt sich noch ein Rollstuhlfahrer mit gelben Pumas in den Party-Pulk. Und wenn die Bude platzt, die Gläser schäumen und Gäste auf die Strasse purzeln - Isi würde sagen: Es war ein geiler Abend.
Thomas Gautier