Anwalt Alexander Stevens: Darum gibt es so viele unschuldig verurteilte Mörder

Selbst mit der heutigen Forensik und Kriminaltechnik kann ein Mörder davonkommen, meint Dr. Alexander Stevens (41). Der Strafverteidiger stellt in seinem Buch "Der perfekte Mord?" mehrere Fälle vor, bei denen Zweifel bleiben, ob wirklich der richtige Täter verurteilt wurde.
Neues Buch von Dr. Alexander Stevens heißt "Der perfekte Mord?"
AZ: Herr Stevens, wie viele verurteilte Mörder sitzen in Deutschland unschuldig im Gefängnis?
DR. ALEXANDER STEVENS: Im Durchschnitt bekommen etwa 600 Personen Haftentschädigungen, was bei ca. 700.000 Verurteilungen pro Jahr auf den ersten Blick nach einer nur geringen Fehlerquote anmutet. Allerdings dürfte die Dunkelziffer an falschen Verurteilungen deutlich höher sein, legt man allein die Tatsache zu Grunde, dass knapp 70 Prozent aller Verurteilungen eben nicht aufgrund von Sachbeweisen und überzeugenden Indizien wie DNA-Fingerspuren oder Handyauswertungen erfolgt...
Sondern?
....aufgrund bloßer Zeugenaussagen, dem unsichersten Beweismittel überhaupt! Hinzu kommt, dass die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens in Deutschland gegen Null geht, weil die Anforderungen vom Gesetzgeber und Rechtsprechung so hoch gesetzt sind, dass man die Kriterien hierzu kaum erfüllen kann.
Stevens: Kaum Grenzen bei Überzeugungsbildung
Was muss Ihrer Meinung nach dringend dagegen unternommen werden?
Das größte Problem dürfte sein, dass dem Richter bei der Überzeugungsbildung, ob jemand schuldig oder unschuldig ist, kaum Grenzen gesetzt sind. Es gilt die sogenannte freie richterliche Beweiswürdigung.
Was versteht man unter einer freien richterlichen Beweiswürdigung?
Der Richter ist in seiner Entscheidung, wie er urteilt, völlig frei, solange er nicht gegen Wissenschaft und zwingende Denkgesetze verstößt. Sagen zum Beispiel drei Zeugen aus, es wäre hell gewesen, und ein Zeuge, es sei dunkel gewesen, bleibt es dem Richter frei, dem einen Zeugen anstelle der drei anderen Zeugen zu glauben und so sein Urteil zu begründen.
Unschuldig verurteilt: Was kann man dagegen machen?
Was würden Sie den unschuldig Verurteilten raten?
Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Die Erfolgsquote liegt bei unter einem Prozent, und trotzdem kann ich jedem nur raten, weiterzukämpfen! Denn jeder erfolgreiche Kampf zeigt der Öffentlichkeit auch, dass unser Justizsystem leider nicht unfehlbar ist und dass hier dringend nachgebessert werden muss – insbesondere an den Möglichkeiten, sich gegen falsche Urteile zu wehren!
Was geht in einem Strafverteidiger vor, wenn der Mandant wegen Mordes verurteilt wird?
Das kommt entscheidend darauf an, ob man ihn für unschuldig hält oder nicht.
Nehmen wir an, Sie halten den eigenen Mandaten für schuldig...
Dann geht es ja nicht darum, einen Freispruch zu erzielen, sondern eine tat- und schuldangemessene Strafe. Darin liegt auch die Aufgabe eines Strafverteidigers: Wenn die Ehefrau, die Jahrzehnte von ihrem Mann geschlagen, vergewaltigt und gedemütigt wurde, eines Nachts die Nachttischlampe nimmt und den schlafenden Ehemann erschlägt, ist es juristisch gesehen ein Mord. Aber vermutlich wird man mir recht geben, dass das eine andere Qualität hat, als wenn sie ihren liebenden Ehemann nur des Erbes wegen erschlagen hätte. Und hier muss dann eine Verteidigung ansetzen und darauf hinwirken, dass das Gericht zu einer Strafe gelangt, die diesen Unterschied auch anerkennt.
Und was macht es mit Ihnen, wenn Sie gar nach der Verurteilung von seiner Unschuld überzeugt sind?
Wird jemand wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt und man ist überzeugt, dass er eigentlich unschuldig ist, dann ist das selbstredend kein leicht zu verarbeitendes Ergebnis in der eigenen Karriere. Leider kommt das auch immer wieder vor.
Perfekte Morde: Wo sind die Schwachstellen im System?
Wie kann es in unserem Rechtssystem zum perfekten Mord kommen?
Die Schwachstellen im System sind vielschichtig, sie beginnen bei Kostenfragen und enden bei formaljuristischen Hürden. So gibt es in Deutschland zum Beispiel keine zwingenden Vorschriften zur Leichenschau. Auch nicht zu den Qualifikationen, die ein Arzt haben muss, um diese durchzuführen.
Auch ein Augenarzt könnte eine Leiche untersuchen?
Ja, theoretisch kann auch er den Totenschein ausstellen, auch wenn er in der Praxis noch nie mit Leichen zu tun hatte. Und ohne einen entsprechenden ärztlichen Hinweis auf eine möglicherweise nicht natürliche Todesursache wird auch keine Polizei eingeschaltet. Umgekehrt hatte ich auch schon einen Fall, bei dem sich ein Täter ins Ausland abgesetzt und von dort aus behauptet hatte, verstorben zu sein. Gegen Tote wird nicht ermittelt. Der meines Erachtens gefälschte ausländische Totenschein genügte dem Staatsanwalt zur Einstellung des Verfahrens.
Richter ist beim Urteil von Emotionen und Intuition geleitet
Welche Rolle spielen die Emotionen und die Intuition des Richters, dem Sie gegenübersitzen?
Urteile im Strafrecht werden ausschließlich aus dem Bauch heraus gesprochen. Das sieht das Gesetz letztlich sogar explizit so vor, indem es den Richter an keinerlei Vorgaben bei der Beweiswürdigung bindet. Zwar ist das auch in vielen anderen Ländern so, doch da gibt es zumindest bei Kapitaldelikten wie Mord, Vergewaltigung etc. Geschworenengerichte, bei denen eine Vielzahl an Richtern (Geschworene) zu einer einstimmigen Entscheidung gelangen müssen. Das Wohl und Wehe eines Angeklagten hängt dann nicht von der bloßen Überzeugung eines Einzelnen ab.
Hierzulande ist das anders...
Das deutsche Strafrecht hat, was das Verfahren und die Urteilsfindung anbelangt, gravierende Mängel, die der Gesetzgeber nicht beheben will. Denn mit Strafrecht lässt sich kein Wahlkampf machen, zumindest dann nicht, wenn es um die Rechte von "Tätern" geht. So gibt es bis heute bei großen Strafverfahren noch nicht einmal eine anständige Protokollierung der Prozesse. Versteht ein Richter einen Zeugen falsch, obwohl alle Zuschauer im Gerichtssaal den Zeugen anders verstanden haben, gilt das, was der Richter verstanden hat. Eigentlich unfassbar, wenn man darüber nachdenkt, oder?
"Der perfekte Mord? Lebenslänglich ungesühnt – wahre Fälle eines Strafverteidigers" erschien am 28. April im Piper Verlag (10 Euro, 224 Seiten).