"Aktenzeichen XY"-Psychologin Lydia Benecke: "Dieses Phänomen sieht man oft bei Autounfällen auf Autobahnen"

Echte Kriminalfälle, reale Opfer und die öffentliche Suche nach dem Täter – seit dem 20. Oktober 1967 nimmt "Aktenzeichen XY... ungelöst" das Publikum mit in eine Welt jenseits der fröhlichen TV-Unterhaltung. In dem Format werden Gewaltverbrechen nachgespielt und die Zuschauer dazu aufgerufen, zur Auflösung beizutragen. Im Studio wird Moderator Rudi Cerne, der für die Sendung seit 2002 vor der Kamera steht, von Kriminalkommissaren und Psychologen unterstützt.
Kriminalpsychologin Lydia Benecke unterstützt "Aktenzeichen XY"
Eine von ihnen ist Lydia Benecke. Die 41-Jährige hat Psychologie, Psychopathologie und Forensik studiert und arbeitet mit Sexual- und Gewaltstraftätern. Als Autorin ("Auf dünnem Eis – Die Psychologie des Bösen") und Podcasterin (WTF Talk – Wissenschaft trifft Freundschaft) will sie das Themenfeld Kriminalpsychologie einem breiten Publikum zugänglich machen. Am Mittwoch (6. März) ist sie außerdem in der Sonderausgabe "Aktenzeichen XY... gelöst" zu sehen.
Was steckt hinter der Faszination von "True Crime"? Warum begeistern sich so viele Menschen für echte Verbrechen? Kann unter bestimmten Bedingungen jeder zum Mörder werden? Die Psychologin stand der AZ Rede und Antwort.
Das steckt hinter dem Erfolg von "Aktenzeichen XY"
AZ: Frau Benecke, Sie sind seit 2017 regelmäßig als Psychologin bei "Aktenzeichen XY" dabei. Was macht, Ihrer Meinung nach, den Erfolg der Sendung aus?
LYDIA BENECKE: Viele Menschen sind mit dieser Sendung aufgewachsen. Auch ich habe "Aktenzeichen XY" schon als Kind geschaut. Die lange Erfolgsgeschichte der Sendung liegt meiner Meinung nach an mehreren Faktoren. Es war das erste Format, das im Fernsehen ungeklärte Kriminalfälle in dieser Form präsentiert hat. Die Menschen vor dem Fernseher konnten und können nach wie vor zur Aufklärung beitragen. Ich glaube, dass genau das viele sehr spannend finden. Ein weiterer Punkt wäre die grundsätzliche Faszination von Menschen an echten Straftaten.

Was steckt denn dahinter?
Das Interesse an Straftaten lässt sich in der Menschheitsgeschichte sehr weit zurückverfolgen. Ein historisches Beispiel dafür ist der Fall von "Jack the Ripper" [1888, d.Red.]. Damalige Zeitungen ließen für die Berichterstattung über diesen aufsehenerregenden Fall Szenen wie die am Tatort liegende Leiche zeichnen, um hierdurch die Auflage zu steigern. Man hat damals den Fall nicht nur als Thema erkannt, das die Leserschaft interessieren könnte, sondern auch das Mittel der bildlichen Darstellung zur Aufmerksamkeitsgewinnung eingesetzt, was wir auch heute in vielen Medien sehen.
Faszination für Gewaltverbrechen: "Das hat einen evolutionären Sinn"
Wie kann man erklären, dass sich Menschen derart für Gewaltverbrechen, sei es fiktiv oder real, interessieren?
Ein Teil der Erklärung besteht darin, dass Menschen ihre Aufmerksamkeit unwillkürlich und schnell potenziellen Gefahrenquellen zuwenden. Das hat einen evolutionären Sinn, denn wenn wir eine Informationsquelle, die auf eine Gefahr hinweist, schnell wahrnehmen, können wir uns auch schützen. Dieses Phänomen sieht man zum Beispiel oft bei Autounfällen auf Autobahnen: Menschen fahren langsam an der Unfallstelle vorbei und schauen sich diese an. Das ist ein automatisiertes Verhalten, das auf der ganzen Welt beobachtbar ist. Eine Gefahrensituation generiert also unwillkürliche Aufmerksamkeit.
Wie lässt sich die Faszination an realen Straftaten übertragen?
Berichte über Gewaltverbrechen lassen sich meiner Meinung nach damit in Verbindung bringen, denn wir bekommen eine bedrohliche Sachlage präsentiert. Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass viele Menschen "True Crime"-Formate zu konsumieren als interessante und sogar angenehme Freizeitbeschäftigung beschreiben. Dieser Aspekt an "True Crime" wird zu Recht als ethisch fragwürdig kritisiert und auch ich setze mich mit dieser Fragestellung auseinander. Für mich ist hierbei entscheidend, das aus psychologischen Gründen vorhandene Interesse zu nutzen, um Wissenschaftskommunikation zu betreiben, die Menschen also zu bilden, aufzuklären und zum Nachdenken zu bewegen. Dies ist meiner Meinung nach die sinnvollste Art, mit dem tiefsitzenden Interesse an "True Crime" umzugehen.
Was sind die psychologischen Gründe für dieses tief sitzende Interesse?
Menschen haben sich auch in früheren Zeiten Geschichten über wahre Verbrechen erzählt. Teilweise wurden sie zu düsteren Märchen weiterentwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte der Elisabeth Báthory, die 1611 als Serienmörderin verurteilt wurde. Über hundert Jahre später wurde die Legende erfunden, sie habe im Blut junger Mädchen gebadet, um sich zu verjüngen, was sie als eine vampirischen Gestalt erscheinen ließ. Genau diese Geschichte hörte meine Oma als Kind in den 1930er Jahren in Oberschlesien von meiner Urgroßmutter, die abends der Familie gruselige Geschichten vorlas. Das Vorlesen solcher Geschichten war quasi der Vorläufer der heutigen Podcasts. Menschen finden es angenehm, in einer sicheren Umgebung schauerlich klingende Geschichten zu konsumieren. In diesen wird eine Gefahrensituation aufgezeigt, die aber mit einem sicheren Abstand betrachtet werden kann. Vergleichbar ist das mit einer Achterbahnfahrt: Dabei setzt man sich einer beängstigenden Situation aus, es wird Adrenalin ausgeschüttet, aber es besteht keine reale Gefahr, was das Erlebnis angenehm macht. Das ist der Mechanismus einer Simulation von Gefahrenmomenten. Die Simulation ist angenehm, eine echte Gefahrensituation ist es hingegen nicht.
So hat Lydia Benecke die Kriminalpsychologie für sich entdeckt
Sie haben Psychologie, Psychopathologie und Forensik studiert. Woher kam Ihr Interesse, sich mit den Abgründen des menschlichen Handelns auseinanderzusetzen?
Meine Geschichte ist sicherlich etwas ungewöhnlich. Ich bin 1987 mit viereinhalb Jahren mit meiner Mutter und Großmutter aus Polen nach Deutschland geflohen. Wir waren dann zunächst in mehreren Unterkünften, darunter das Grenzdurchgangslager Friedland, untergebracht. Am Ende sind wir im Ausländerwohnheim in Bottrop angekommen, weil in der Stadt die Schwester meiner Oma gelebt hat. Später konnten wir in eine Sozialwohnung in einer Hochhaussiedlung ziehen. Das war eine sozioökonomisch eher benachteiligte Gegend.
Und wie ging es dann weiter?
Es war eine Zeit, in der ich sehr viel von sozialen Schwierigkeiten mitbekommen habe, denn meine Oma und ihre Freundinnen haben beim Kaffee den neuesten Tratsch aus der Sozialsiedlung besprochen – wo eingebrochen wurde, wer Drogen verkauft hat, wer zusammengeschlagen wurde. Im Nachbarhochhaus gab es auch einen Serienbrandstifter, der regelmäßig den Keller anzündete. Das waren Aspekte, die dazu beigetragen haben, dass kriminelle Verhaltensweisen etwas waren, womit ich in meiner Umgebung konfrontiert war. Das hat bei mir das Interesse geweckt, warum es eigentlich Verbrechen gibt.
Lydia Benecke über das Böse: "So funktioniert das nicht"
Glauben Sie daran, dass es wahrhaft böse Menschen gibt?
Das "Böse" ist ein Konzept, das in der Philosophie und der Theologie definiert wird. In der Psychologie geht es jedoch darum herauszufinden, welche Faktoren die Wahrscheinlichkeit für unsoziale Verhaltensweisen, wie etwa Straftaten, erhöhen. Für mich ist entscheidend, welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass Person X an diesem Tag entschieden hat, eine andere Person schwer zu schädigen, um ein wie auch immer geartetes Bedürfnis in dieser Situation zu befriedigen. Da gibt es nicht den einen Aspekt. Es wäre einfach zu sagen: Es gibt das eine bestimmte Gen oder die eine Sache, die bewirkt, dass eine Person problemlos in der Lage ist, anderen schwer zu schaden oder gar zu töten – aber so funktioniert das nicht. Es ist eine sehr komplexe Wechselwirkung von Faktoren, die begünstigen können, dass manchen Menschen sich auf eine Art entwickeln, die es ihnen leichter macht als anderen, sich in einer bestimmten Situation für ein Verbrechen zu entscheiden.
Könnten Sie das an einem fiktiven Beispiel erklären?
Wenn beispielsweise Person X Person Y tötet, dann schaue ich mir in meinem Arbeitsbereich an, welche Persönlichkeitseigenschaften vorliegen, welche Vortatentwicklungen es gab und welche Lebensgeschichte dahinter steckt. Dann muss geschaut werden: Welche Faktoren haben das Handeln von Person X wahrscheinlicher gemacht? Da gibt es viele Variablen, die bei der Entwicklung hin zu der Tat eine Rolle gespielt haben können. Wenn man diese erfasst, kann man das wie eine mathematische Gleichung sehen und beobachten, wie diese Variablen in Wechselwirkung zueinander treten, hin zu der Situation, in der diese Person entschieden hat, eine Straftat zu begehen.
Hat jeder Mensch das Potenzial, ein Gewaltverbrechen zu begehen?
Kann unter bestimmten Voraussetzungen jeder Mensch zu einem Gewaltverbrecher werden?
Es kommt immer auf das Zusammenspiel psychologischen Faktoren und situativer Faktoren an. Wenn man diese kennt, dann kann man das wie eine mathematische Gleichung ausrechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person in einer bestimmten Situation sich entscheiden könnte, irgendeine Form von Straftat zu begehen. Wenn wir dabei von einem Tötungsdelikt ausgehen, dann müssten bei den meisten Menschen sehr viele situative Faktoren ungünstig zusammenkommen, damit sie in der Lage wären, ihre Tötungshemmung zu überwinden. Bei anderen Menschen sind die Persönlichkeitseigenschaften zum Beispiel schon von einigen Risikofaktoren geprägt, die ihnen eine solche Entscheidung erleichtern.
Wie wirkt sich Ihr Beruf auf Ihr Privatleben aus? Beschäftigen Sie die Fälle auch noch zu Hause?
Ich beschäftige mich ja schon sehr lange mit Straftaten und habe das nie als emotional belastend empfunden. Das, was mich daran interessiert, ist eher abstrakt, wie die Faktoren und Muster, die zu einem Verbrechen führen und was dahinter steckt. Es ist, als löse man ein Sudoku-Rätsel. Dadurch war es für mich nie vordergründig emotional, denn meine Beschäftigung hat den Fokus auf der rationalen Analyse.
Sie sind seit Ihrem Studium in der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften aktiv. Haben Sie je etwas erlebt, das wissenschaftlich nicht zu erklären war?
Es ist absolut alles wissenschaftlich erklärbar. Das macht vermeintlich paranormale Phänomene aber nicht weniger spannend. Das, was Menschen in derartigen Situationen erleben, ist in ihrer subjektiven Erlebnisrealität real. Allerdings hat dieses subjektive Erleben nichts mit einem paranormalen Wirkmechanismus oder Wesen zu tun, sondern mit Faktoren, die wir rational und psychologisch erklären können.
Wie kann es Ihrer Erklärung nach zu paranormalen Erlebnissen kommen?
Spukphänomene haben beispielsweise damit zu tun, dass unser Gehirn darauf ausgelegt ist, Muster zu erkennen – wie menschliche Silhouetten oder Gesichter. Bei uneindeutigen Sichtverhältnissen wie in einer düsteren Ruine etwa kann das dazu führen, dass eine menschliche Gestalt oder ein Gesicht wahrgenommen wird, das nicht da ist. Das Gehirn vervollständigt im Sinne der Mustererkennung die uneindeutige Wahrnehmung und dadurch entsteht dann das wahrgenommene Bild eines vermeintlichen Geistes.