Zerfällt die Europäische Union?

FRANKREICH: Die Chefin der rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, fordert seit Langem ein Referendum über den von ihr gewünschten Austritt Frankreichs aus der EU. Allerdings gibt es eine klare Hürde in der Verfassung: Es liegt allein in der Entscheidung des Staatspräsidenten, eine direkte Volksbefragung anzusetzen.
NIEDERLANDE: Eine Mehrheit der Niederländer wäre nach Umfragen für eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Doch das ist nach heutiger Gesetzeslage unmöglich. Es gibt nur das Instrument eines „ratgebenden“ Referendums. Dennoch forderte der Chef der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders, nach dem Brexit-Referendum auch für sein Land eine Abstimmung. „Bye bye Brüssel“, jubelte er. „Und die Niederlande werden die Nächsten sein!“
UNGARN: Ein Referendum über einen EU-Austritt ist in Ungarn nicht grundsätzlich unmöglich, derzeit aber eher unwahrscheinlich. Trotz seiner Konflikte mit Brüssel hatte der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orban zuletzt mit Anzeigen in britischen Zeitungen für einen Verbleib des Vereinigten Königreiches in der EU geworben. ÖSTERREICH: Die rechte FPÖ will die weitere Entwicklung genau beobachten, bevor sie sich für ein EU-Referendum auch in Österreich einsetzt. „Die Union muss sehr rasch reagieren. Wenn nicht innerhalb eines Jahres die notwendigen Weichenstellungen gesetzt werden, dann ist das Projekt stark geschädigt“, sagte FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer. Das Ergebnis einer Volksabstimmungen ist bindend. Die Initiative dazu muss vom Parlament ausgehen. Es genügt ein Drittel der Stimmen.
POLEN: Während die nationalkonservative Warschauer Regierung betont, sie werde keinesfalls dem Vorbild von Großbritannien folgen, haben verschiedene rechtspopulistische und nationalistische Gruppen einen „Pol-Exit“ verlangt. Doch angesichts der hohen Zustimmung, die die EU-Zugehörigkeit in Polen genießt, dürfte ein Referendum zum Scheitern verurteilt sein. Eine landesweite Abstimmung kann in Polen unter anderem dann durchgesetzt werden, wenn die Antragsteller 500 000 Unterschriften sammeln.
ITALIEN: Ein Referendum über einen „Ital-Exit“ ist rechtlich quasi unmöglich. Denn die Verfassung verbietet solche Abstimmungen mit internationalem Bezug. Gleichwohl haben Rechtspopulisten wie Matteo Salvini von der Lega Nord das Thema für sich entdeckt. Er fährt zweigleisig: Einerseits will er Unterschriften für eine Gesetzesänderung sammeln, um den Italienern Abstimmungen dieser Art zu ermöglichen. Das ist bei den Mehrheitsverhältnissen in Italien aber schwierig. Außerdem hat er das von Regierungschef Matteo Renzi für den Herbst angekündigte Verfassungsreferendum im Blick, das über dessen politische Zukunft entscheiden dürfte. Salvini spricht schon von einem „Renxit“, einem Ende der Ära Renzi, das dort zur Wahl stehe.
DÄNEMARK: Die Rechtspopulisten fordern eine Volksabstimmung zur EU auch in Dänemark. Allerdings will die Dansk Folkeparti erst abwarten, wie der Brexit verläuft. „Wir müssen den präzisen Inhalt des Abkommens kennen. Deshalb können wir nicht sofort eine Abstimmung bekommen. Aber ich finde, wir sollten darauf hinarbeiten“, sagt DF-Chef Kristian Thulesen Dahl. Sieben von neun Parteien im dänischen Parlament sind allerdings gegen einen „Denxit“, darunter die Regierungspartei Venstre. Zu einem Referendum kommt es nur, wenn eine größere Gruppe im Parlament eine Abstimmung unterstützt.
SCHWEDEN: Die rechten Schwedendemokraten wünschen sich schon lange eine Volksabstimmung zur schwedischen EU-Mitgliedschaft. Laut deren Chef Jimmie Åkesson hat das Votum für den Brexit dieser Forderung mehr Nachdruck verliehen. Auch die Linken fordern weniger Macht für die EU, wollen aber mit dem Ruf nach einem Referendum warten, bis klar ist, welche Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit der EU Großbritannien aushandeln kann.
TSCHECHIEN: Das Brexit-Referendum hat eine Debatte über einen möglichen „Czexit“, einen tschechischen EU-Austritt, entfacht. Beobachter befürchten, dass das Thema den Parlamentswahlkampf 2017 dominieren könnte. Anfang Mai scheiterte allerdings ein Antrag der rechtspopulistischen Morgenröte (Usvit), über ein Referendum im Abgeordnetenhaus zu beraten. Um den „Czexit“-Anhängern besser entgegentreten zu können, fordert der proeuropäische Regierungschef Bohuslav Sobotka: „Europa muss tatkräftiger, flexibler, weniger bürokratisch und viel aufmerksamer für die natürlichen Unterschiede zwischen den 27 Staaten werden.“
SPANIEN und PORTUGAL: In den Staaten auf der Iberi- schen Halbinsel spielen rechtspopulistische Gruppen praktisch keine Rolle. Forderungen nach einer Abhaltung von EU-Referenden werden nicht erhoben. Allein in Katalonien gibt es das Verlangen nach einer Volksabstimmung. Dort wollen die Separatisten die Region aber nur von Spanien abspalten, jedoch als unabhängiger Staat in der EU bleiben.
BALTIKUM: In Estland, Lettland und Litauen findet sich mehr Begeisterung für die EU als in vielen westlichen Mitgliedstaaten. Verschiedene Krisen geben EU-Skeptikern und Rechtspopulisten aber Auftrieb. Einzelne Oppositionsparteien und Einwanderungsgegner fordern etwa Referenden über die Flüchtlingspolitik und die Aufnahme von Migranten. Die Regierungen in Tallinn, Riga und Vilnius beugen sich dem aber bislang nicht.