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Zahl der Straftaten explodiert: Leben Juden in Bayern noch sicher?

Antisemitische Straftaten in Bayern sind 2023 dramatisch gestiegen. Der AZ liegen exklusiv Zahlen des Innenministeriums vor. Leben Juden im Freistaat noch sicher?
von  Tobias Lill
Bei einer Demo im Dezember in München hält eine Frau ein Schild mit dem verbotenen Slogan: "Vom Fluss bis zum Meer".
Bei einer Demo im Dezember in München hält eine Frau ein Schild mit dem verbotenen Slogan: "Vom Fluss bis zum Meer". © S. Babbar/imago

München - Es sollte für den 30-jährigen Mexikaner eine wundervolle Zeit in Bayern werden. Acht Wochen wollte der Tourist in München bleiben, die Stadt und ihre Umgebung erkunden. Er verband mit der Landeshauptstadt wie viele Gäste aus dem Ausland leckeres Essen, gutes Bier und eine tolerante Lebensweise - mit Antisemitismus hatte er nach eigener Aussage dagegen nicht gerechnet.

Doch in der Nacht auf den 14. Dezember vergangenen Jahres wurde der Mann jüdischen Glaubens unweit einer Bar mutmaßlich von einer Gruppe von sechs jungen Männern attackiert - offensichtlich, weil er aufgrund des Tragens einer Kippa als Jude erkennbar war.

Einer der Angreifer soll ihm mit der Faust ins Gesicht und die Rippen geschlagen haben. Die in der Folge alarmierte Polizei geht dem "Bayerischen Rundfunk" zufolge davon aus, dass die Prügelattacke einen antisemitischen Hintergrund hatte.

Explosion der Zahlen

Der Mexikaner ist kein Einzelfall. Vor allem in den vergangenen Monaten ist aufgrund des Gaza-Kriegs die Zahl der antisemitischen Straftaten im Freistaat regelrecht explodiert. Bereits Anfang Februar hatte Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle von einem dramatischen Anstieg berichtet - der CSU-Politiker hatte die Zahl der polizeilich registrierten antisemitischen Straftaten in Bayern für 2023 mit 538 angeben.

Doch Zahlen des bayerischen Innenministeriums zeigen nun, dass das Ausmaß judenfeindlicher Delikte im vergangenen Jahr sogar noch deutlich größer war. Wie eine Anfrage der Abendzeitung beim bayerischen Innenministerium ergab, stieg die Zahl der antisemitischen Straftaten von 2022 bis 2023 um gut zwei Drittel von 358 auf 589.

204 Delikte allein nach 7. Oktober

Vor allem seit dem Massaker der Terrorgruppe Hamas in Israel am 7. Oktober und dem folgenden israelischen Angriff auf Gaza explodierte die Zahl. "Im Zeitraum 7. Oktober 2023 bis 31. Dezember 2023 wurden im Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch Motivierter Kriminalität insgesamt 204 Delikte im Unterthemenfeld ,Antisemitisch' im Zusammenhang mit dem ,Israel-Palästina-Konflikt' erfasst", sagt eine Ministeriumssprecherin.

"Hier besteht großer Handlungsbedarf. Und zwar für die Bildungsarbeit und die damit mögliche Präventionsarbeit, aber auch für den wehrhaften Rechtsstaat - vor allem für die Strafverfolgung und die Justiz", konstatierte der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle (CSU) bereits im Februar.

Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Landtags-Grünen, sagt der AZ: "Es darf nicht sein, dass Jüdinnen und Juden sich nicht mehr sicher fühlen." Der Freistaat müsse die Bildungsarbeit intensivieren.

"Brandbeschleuniger" Nahost-Konflikt? 

Längst ist auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann alarmiert. Der Nahost-Konflikt wirke "als Brandbeschleuniger für antijüdische und antiisraelische Hetze - quer durch alle Phänomenbereiche der Politisch Motivierten Kriminalität", sagt der CSU-Politiker der AZ.

Für ihn ist klar: "Die unerträgliche Hetze gegen Jüdinnen und Juden ist ein Angriff auf die Grundwerte unserer Gesellschaft. Wir treten solchen Entwicklungen mit aller Konsequenz und ohne jegliche Toleranz entgegen."

Jede Straftat wird geahndet

Mancherorts fährt die Polizei öfter vor Synagogen oder jüdischen Schulen Streife, zum Teil haben Beamte Stellung bezogen. "Die Bayerische Polizei unternimmt jedenfalls alles, um Gewalt, Volksverhetzung und andere strafrechtlich relevante Verhaltensweisen zu unterbinden", versichert Herrmann. Jede Straftat werde von Polizei konsequent zur Anzeige gebracht.

Doch das Problem seit Mitte vergangenen Jahrzehnts wieder steigender Judenfeindlichkeit ist kein allein bayerisches: Das Bundesinnenministerium weist judenfeindliche Delikte in der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) aus.

Hohe Zahl von judenfeindlichen Delikten

Deren Zahl schwankte seit Beginn der Statistik 2001 bis zum Jahr 2017 bundesweit stets zwischen rund 1200 und gut 1800. Bis 2021 kletterte sie dann auf 3027 und lag auch im Folgejahr mit 2641 auf hohem Niveau.

Laut PMK-Statistik waren bis 2020 über 90 Prozent der registrierten antisemitischen Straftaten rechts motiviert. 2022 waren es mit 2185 von 2641 rund 83 Prozent. Lediglich 67 Straftaten seien durch "eine ausländische Ideologie", 38 durch "religiöse Ideologen" und acht links motiviert gewesen - also nur ein Bruchteil.

Rechter Hintergrund

Konservative Publizisten kritisieren jedoch seit Jahren, die deutsche Polizeistatistik verschleiere islamistischen Antisemitismus. Denn antisemitische Straftaten seien, wenn sich aus den Tatumständen oder der Einstellung des Täters keine gegenteiligen Anhaltspunkte zur Motivation ergeben habe, bislang in der PMK-Statistik häufig als rechts motiviert erfasst worden.

Mittlerweile hat die Politik auf die Kritik reagiert. Das zuständige Gremium der Innenministerkonferenz hat im Dezember 2023 die bisherige Regelung nach Angaben des Bundesinnenministeriums geändert. Eine Sprecherin des von Nancy Faeser geführten Hauses bestätigte gegenüber der AZ zwar, dass bis Ende 2023 für antisemitische Straftaten, die nicht als links-, rechts-, ausländisch- oder religiös-motiviert zuordenbar waren, eine Sonderregelung gegolten habe.

Greift die Sonderregelung? 

Diese wurden tatsächlich automatisch dem rechten Spektrum zugeordnet. "Diese Sonderregelung kam jedoch nur bei ungefähr 10 Prozent der gemeldeten antisemitischen Straftaten zur Anwendung, weil in der ganz weit überwiegenden Zahl der Fälle konkrete Anhaltspunkte vorlagen", so die Sprecherin.

Für das SPD-geführte Ministerium ist deshalb klar: "Der hohe Anteil im Phänomenbereich der PMK - rechts - ist also ganz weit überwiegend durch entsprechende polizeiliche Erkenntnisse im Hinblick auf eine ,rechte' Tatmotivation begründet ."

Klar ist: Seit dem 1. Januar 2024 werden antisemitische Delikte, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Zuordnung zu diesen Phänomenbereichen vorliegen, der Sprecherin zufolge generell unter "sonstige Zuordnung" erfasst.

Fast so viele wie sonst in einem Jahr

Für 2023 gibt es noch keine abschließende bundesweite Statistik - doch das Bundeskriminalamt geht davon aus, dass es allein von Anfang Oktober 2023 bis Mitte Januar dieses Jahres zu über 2200 antijüdisch motivierte Straftaten kam - fast so viele wie sonst in einem ganzen Jahr. Bereits vor dem Gaza-Krieg wurden Jüdinnen und Juden immer öfter tätlich angegriffen. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten erreichte 2022 mit 88 einen neuen Höchststand.

Mehrfach forderte der antisemitische Terror auch in Bayern Todesopfer: 1980 wurden ein jüdischer Verleger und seine Lebensgefährtin in Erlangen erschossen, die Spur führte zu Rechtsterroristen. Während der Olympischen Spiele 1972 in München ermordeten palästinensische Terroristen zwei israelische Sportler und nahm neun Menschen als Geiseln, die alle bei der Befreiung getötet wurden.

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