Wo fehlt's denn, Herr Doktor?
"Jeder Pizza-Bäcker bekommt mehr für einen Hausbesuch" - Am Mittwoch demonstrieren tausende Hausärzte gegen ihre schlechte Bezahlung. Die AZ war in der Praxis eines Münchner Mediziners.
VON VOLKER TER HASEBORG
Als Christoph Grassl zur Welt kam, machte sein Vater Erich eine eigene Hausarzt-Praxis auf. Das ist in diesem Jahr 60 Jahre her, mittlerweile ist Christoph Grassl seit 24 Jahren Chef der Praxis. "Mein Vater hat die goldenen Arzt-Jahre in den 60er und 70er Jahren miterlebt", sagt Grassl. Und heute?
Grassl seufzt und lehnt sich in seinem Arzt-Sessel zurück. "Wir haben keine guten Jahre mehr gehabt", sagt der sportliche Mann mit der gesunden Gesichtsfarbe. Mit einem Patienten reden? 20 Punkte. Ihn zu Hause besuchen? 440 Punkte. Die Punkte sind das Honorar eines jeden Hausarztes, das steht in der Gebührenordnung. Die Punkte lassen die Entlohnung höher wirken, so scheint es. Ein Punkt bedeutet 0,033 Euro: Das Patientengespräch bringt 66 Cent, der Hausbesuch 14,52 Euro. Der Arbeitsalltag eines Hausarztes ist die Punktejagd.
"Bald kaum noch Hausärzte"
Am Mittwoch werden in Nürnberg tausende von Hausärzten gegen ihre schlechte Bezahlung demonstrieren. Sie wollen ihre kassenärztliche Zulassung zurückgeben. In Zukunft möchten sie ihre Honorare direkt mit den Krankenkassen aushandeln, ohne Zwischenvermittlung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Diese verhandeln mit den Kassen die Honorare und verteilen das Geld nach dem Punktesystem.
Wenn die Entwicklung weitergeht, wird es bald kaum noch Hausärzte geben, sagen die Ärzte. Der Nachwuchs bleibt aus. Die Folgen: Nicht nur, dass Patienten ihr auf Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis verlieren - auch die wohnortnahe Versorgung mit dem Hausarzt ist in Gefahr. Den ländlichen Raum trifft es besonders hart.
Es ist nicht einfach, sich in diesen Tagen eine Meinung über den Aufstand der Hausärzte zu bilden. Klagen von Medizinern über ihr mieses Einkommen stoßen generell auf große Skepsis. Kennt nicht jeder einen Arzt in der Nachbarschaft, der stets das neueste Gefährt vor dem Eigenheim stehen hat und den Urlaub im Feriendomizil verbringt? Verdienen sich die Mediziner nicht mit ihren Privatpatienten eine goldene Nase? Und gibt es in Großstädten nicht in jeder Strasse einen Arzt?
"Mein Begleiter durchs Leben"
Es ist 8.30 Uhr morgens, die Punktejagd in Doktor Christoph Grassls Münchner Praxis beginnt. Von der Anmeldung hört man die aufgeregte Stimme einer ausländischen Patientin: "Aber ich muss doch abgebben Urin!" Nein, beschwichtigt die Arzthelferin, nur Blut wird heute abgenommen. Ein anderer Patient flucht: "Nix brauchen Termin!" Drinnen im Sprechzimmer misst Christoph Grassl den Blutdruck von Rose-Marie Donner. "Mein Hausarzt ist mein Begleiter durchs Leben", sagt die Rentnerin und lächelt glücklich.
Seit 25 Jahren kommt sie in Grassls Praxis. "Es ist nicht einfach, so etwas zu finden", sagt die 70-Jährige. Als sie damals an Krebs erkrankte, habe sich der "Herr Doktor" dafür eingesetzt, dass sie ein teures Artzney bekam, das ihr die Kasse erst nicht zahlen wollte. "Man kann mit ihm sprechen. Viele andere Ärzte nehmen sich keine Zeit mehr", sagt Frau Donner.
16 Euro pro Patient im Monat
Pro Kassenpatient bekommt Grassl im Schnitt 16 Euro im Monat - für alle Leistungen des Hausarztes. "Ein Diabetiker zum Beispiel kommt bis zu zehnmal im Monat in die Praxis."
In Zukunft haben Patienten wie Rose-Marie Donner einfach Pech gehabt, meint Christoph Grassl. Er erzählt von einem Gesundheitssystem, in dem Krankenkassen oder Pharma-Konzerne ihre eigenen Gesundheits-Zentren gründen. Der Patient ist nur noch Kunde der gewinnorientierten Arzt-AGs, die sich in Besitz von Investoren befinden.
"Die interessiert nur der Patient, der viel Geld bringt. Die Oma mit Arthrose fällt durchs Gitter." Und das in Zeiten, in der die Deutschen immer älter und im Alter auch einsamer werden. Der Hausarzt, der dem Patienten noch abrät vom teuren, aber wirkungsgleichen oder wirkungslosen Artzney, wäre damit Geschichte.
Jeder Pizza-Lieferant kassiert mehr
Mittags in Obersendling: Hausarzt Grassl macht sich auf den Weg zu Hausbesuchen. Eine halbe Stunde braucht er pro Besuch, zuzüglich An- und Abreise und Parkplatzsuche. 15 Euro bekommt er pro Hausbesuch, kann zusätzlich noch fünf Euro Wegpauschale anrechnen. Jeder Pizza-Lieferant kassiert mehr, sagt er. "Herr Grassl weiss über jeden Patienten Bescheid. Ich bin seit über 20 Jahren hier. Seine Bezahlung ist ein Skandal", pflichtet ihm Patientin Erika Kujat (72) bei.
Grassl sieht sich selbst vor allem als Seelenklempner: "Ich bin die Müllkippe, die alles auffangen muss. Aber ich bekomme viel zurück." Er ist Hausarzt geworden, weil er sich nicht nur ausschließlich mit Hals, Nasen, Ohren oder dem Rücken beschäftigen wollte - sondern mit dem ganzen Menschen. "Ich kann manchmal schon an der Art, wie ein Patient in meine Praxis kommt, sehen, was er hat", sagt er. Nur weil eine Patientin Vertrauen zu ihm hatte, konnte er Krebs bei ihr entdecken, erzählt er. Letztens erst hat ihm eine Frau gesagt, dass sie nicht mehr leben würde, wenn es den Herrn Doktor nicht gäbe.
"Nicht das Herz, sondern der Herzschmerz"
Vertrauen, das ist ein großer Vorteil der Hausärzte. Das beobachtet Grassl vor allem bei seinen jüngeren Patienten. 70 Prozent der Erkrankungen von jungen Menschen hätten einen psychosomatischen Zusammenhang. "Ob Mobbing oder private Probleme - nur übers vertrauliche Gespräch bekomme ich heraus, dass es nicht das Herz ist, sondern der Herzschmerz."
Am Nachmittag sitzt Grassl wieder in seiner Sprechstunde. Zwischendurch erledigt er Papierkram: Atteste schreiben, Kur-Anträge bearbeiten, Briefe an Krankenkassen schicken. 20 Prozent der Arbeit eines Hausarztes ist Büroarbeit. 2800 Patienten kommen pro Jahr zu Christoph Grassl. Was er verdient? Grassl antwortet mit Durchschnittszahlen, die eigenen Einkünfte will er nicht offenlegen. Er hat auch ein paar Privatpatienten, die seine Bilanz etwas aufbessern.
Grassls Praxis wird nicht in der Familie bleiben. Drei Töchter hat er. Die beiden ältesten haben mit Medizin nichts am Hut. Die jüngste Tochter ist erst 6, spielt Krankenhaus mit ihrer Playstation. Hausarzt werden? Grassl schaut niedergeschlagen. "Raten kann man's niemandem mehr."
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