Wirtschaftshistoriker Sebastian Teupe über Inflation: "Ein immenser Stress"

AZ-Interview mit Sebastian Teupe: Er studierte in Göttingen (Niedersachsen) Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschafts- und Sozialpsychologie und Philosophie. Er ist Juniorprofessor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bayreuth und Mitglied des DFG-Forschungsnetzwerks "Doing Debt. Praxeologie der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert".
Hyperinflation 1923: Legende oder einflussreiches Ereignis ?
AZ: Herr Professor Teupe, die Hyperinflation 1923 gilt als deutsches Trauma. Sie schreiben, das sei mehr eine Legende von Historikern und Journalisten. Was bedeutet das Ereignis tatsächlich für die Deutschen? Und wie beeinflusst es uns noch heute
SEBASTIAN TEUPE: In der öffentlichen Erinnerungskultur und im politischen Diskurs spielt die Hyperinflation nach wie vor eine große Rolle. Das Inflationstrauma ist zu einem stehenden Begriff geworden. Was ich kritisiere, ist die Vorstellung, dass dieses Trauma mit der Inflation in den 1920er Jahren entstanden ist und dann einfach von Generation zu Generation fortgelebt hat. Eltern wissen, wie schwer es ist, bestimmte Ansichten an Kinder weiterzugeben, und warum das ausgerechnet bei einem abstrakten Thema wie dem Geldwert so zuverlässig geklappt haben soll, kann man hinterfragen. Es gab noch die weitere große Inflation in den 1940er Jahren, die in der Erinnerungskultur fast irrelevant ist, die aber als Erfahrungswert eine mindestens ebenso große Rolle gespielt haben könnte. Studien zeigen, dass unser historisches Wissen zu den 20er und 30er Jahren gar nicht so eindeutig ist, dass viele Menschen Inflation und Große Depression, zwei ganz unterschiedliche Ereignisse, vermengen.
Das heißt, die Deutschen gehen mit Inflation um wie alle anderen Europäer auch?
Es wird oft die These vertreten, dass sich die Deutschen nur wegen des Inflationstraumas gegen eine Inflation aussprechen oder das besonders drastisch tun. Wenn man sich aber anschaut, wie etwa in Italien vor der Einführung des Euro die Gesellschaft auf den Geldwert blickte, kann man feststellen, dass es auch da eine große Sorge vor Inflation gab.
"Preissteigerungen wird es weltweit allerdings immer wieder geben"
Die Deutschen sind nicht aufgrund der Erfahrungen der Urgroßeltern panischer als Menschen in anderen Ländern?
Das vermitteln die deutschen Zentralbanker oft so, weil sie als diejenigen wahrgenommen werden möchten, die den Geldwert bewahren müssen. So einfach ist es nicht. Und der Italiener Mario Draghi ist auch nicht mit dem Selbstverständnis rangegangen, die Inflationsrate ins Unermessliche wachsen zu lassen. Das Ziel der Preisstabilität wird von den Mitgliedern der EZB allgemein geteilt.
Sie bezeichnen die Hyperinflation als historisch einmaliges Ereignis. Was glauben Sie, bleibt sie das, oder welches Szenario wäre heute vorstellbar, dass so etwas wieder eintritt?
Die deutsche Hyperinflation in der Konstellation der 1920er Jahre - da müsste schon sehr viel zusammenkommen, dass wir wieder ein vergleichbares Ereignis erleben. Man muss sich allein das Ausmaß der vorangegangenen Zerstörung durch den Ersten Weltkrieg vorstellen, das nötig war für diese Inflation, das Ausmaß an staatlicher Schwäche eines neu gegründeten Staates, das Ausmaß an internationalem Misstrauen, an weit verbreitetem Hass, einem Unwillen zur Koordination auf globaler Ebene. Das sind alles Faktoren, die in der aktuellen Situation aus deutscher Sicht ganz anders gelagert sind. Hyperinflation im Sinne eines bestimmten Ausmaßes an Preissteigerungen wird es weltweit allerdings immer wieder geben, wenn auch in absehbarer Zeit hoffentlich nicht in Deutschland. Aber in der Türkei sehen wir aktuell sehr hohe Inflationsraten. Die Hyperinflation an sich ist ein Ereignis, das nicht aus der Welt ist.
Wenn es darauf ankommt, wird sich mit der Problematik auseinandergesetzt
Ein Problem damals soll die Unkenntnis der Deutschen in Gelddingen gewesen sein. Ist das heute noch so?
Da kann ich nur spekulieren. Ich glaube, dass nur die wenigsten Deutschen eine Inflationsrate so erklären können, dass ein Wirtschaftswissenschaftler damit zufrieden wäre. Wobei sich das durch die Ereignisse der letzten Monate sicher schon geändert hat, weil die Menschen angefangen haben, sich damit genauer auseinanderzusetzen. Aber für die meisten Menschen - wenn der Geldwert stabil ist - gibt es kaum Grund, sich mit diesem Wert näher auseinanderzusetzen. In der Inflationszeit war es vor allem die ältere Beamtengeneration, die gar keinen Willen hatte, zu verstehen, was gerade passiert. Aber es war nicht die ganze Gesellschaft unwissend.
Vertrauen in die Währung – während einer Dauerkrise
Welche Rolle spielte damals die Psychologie?
Sie hat eine entscheidende Rolle gespielt. Für die Akzeptanz des Geldes. Wenn dieses Vertrauen nicht da ist, dann versuchen die Menschen, sich möglichst schnell von dieser Währung zu lösen. Dann gewinnt eine Inflation eine kaum noch zu kontrollierende Eigendynamik. Das hat man ab der zweiten Hälfte 1922 gesehen. Auch bei der Frage der Stabilisierung spielt Psychologie eine Rolle. Um eine neue Währung einzuführen, müssen Sie als Zentralbank den Menschen glaubwürdig vermitteln, dass dieses Geld seinen Wert behalten wird.

Und die Menschen befanden sich in einer Art Dauerkrise ...
Es war eine Phase immensen Stresses. In diesem Zeitraum von 1914 bis 1923, in nicht einmal zehn Jahren, haben wir einen Weltkrieg bisher ungekannten Ausmaßes, eine Inflation bisher ungekannten Ausmaßes, eine Revolution, einen neu gegründeten Staat in Deutschland, eine wahnsinnige Verdichtung der Ereignisse. Vor diesem Hintergrund war das Vertrauen in die Mark noch erstaunlich lange intakt. Heute würde man aus Sicht der Zentralbank viel schneller die Sorge haben, dass bestimmte Ereignisse zu einem Vertrauensverlust in die Währung führen.
"Geldpolitik und eine Abwägung der Frage von Kosten und Nutzen"
Die Menschen sind heute nervöser?
Ja, in Fragen der Inflationsrate habe ich den Eindruck. Heute ist eine kontinuierlichere, geringe Inflationsrate der Normalfall. Vor der Inflationszeit gab es eher Schwankungen um einen angenommenen Normalwert. Dass die Inflationsrate über Jahrzehnte über Null bleibt, ist eine neue Erfahrung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Deshalb hat sich die Sichtweise der Zentralbanken verändert, wie sie Entwicklungen kommunizieren müssen.
Sie sind der Ansicht, man solle Inflation nicht um jeden Preis verhindern. Warum nicht?
Eine Inflation kann ganz reale Ursachen haben, die man nicht wegwünschen und die man nicht politisch einfach wegregulieren kann. Heute denken wir an blockierte Handelsrouten oder Kriege, was sich in der Preisentwicklung spiegeln kann. Wir sehen das gerade beim Gas. Irgendjemand muss das, platt gesagt, ausbaden. Deshalb ist es richtig, wenn der Preismechanismus das zum Ausdruck bringt, auch wenn es schmerzhaft ist. Man kann durchaus sinnvoll über zielgenaue Entlastungen sprechen. Aber wenn man Inflation wirklich bekämpfen will, geht das nur über die Geldpolitik und eine Abwägung der Frage von Kosten und Nutzen, weil schon kleine Zinsveränderungen große Auswirkungen auf die Finanzierung von Krediten oder Investitionsentscheidungen haben, so dass man sich ab einem gewissen Punkt die Geldstabilität nur durch eine Rezession erkaufen kann. Diese Abwägung ist schwer. Die EZB ist nicht zu beneiden.
Damals und heute – was sind die Unterschiede
Die Lohn-Preis-Spirale sah man damals - wie heute - als Gefahr. Inwiefern war sie das wirklich? Ist sie auch heute noch eine Bedrohung?
Mit diesem Begriff sollte man vorsichtig sein. Heute, aber auch für die historische Analyse. Die Lohn-Preis-Spirale war in der deutschen Inflation nicht das Problem. Es wird von Arbeitgebern gern so dargestellt, dass Preissteigerungen nur aufgrund von Lohnforderungen eingetreten seien. Damit benennt man einen Schuldigen und kann sich aus der Affäre ziehen. Wenn man sich die Entwicklung der realen Löhne in der Arbeiterschaft damals ansieht, war die Arbeiterschaft nicht der inflationstreibende Faktor.
Gab es damals sinnvolle Maßnahmen, die auf heute übertragbar wären, wie etwa Mietpreiskontrollen?
Mietpreiskontrollen können eine sinnvolle Maßnahme sein, wenn man die Inflation selbst nicht mehr bekämpfen kann. Das kann viele Haushalte finanziell schon sehr entlasten. Wobei man den Vermietern überproportional schadet und eine Situation herbeiführt, in der die Instandsetzung der Immobilien nicht mehr funktioniert, das hat man in den 20ern gesehen. Die Menschen haben am Ende fast nichts mehr für ihre Miete gezahlt. Man kann über andere Maßnahmen wie Preisobergrenzen und Subventionen für bestimmte Lebensmittel nachdenken - auch das hat es damals gegeben. Das hat aber schlecht funktioniert, weil die von Preisobergrenzen betroffenen Produkte meist von sehr schlechter Qualität waren.
Vertrauen in Staatliche Institutionen
Mit den Erfahrungen von 1923 - was kann heute vor Inflation schützen?
Man kann lernen, dass internationale Kooperation funktionieren muss - die beste Voraussetzung, dass es zu keiner drastischen Inflation kommt. Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist bewahrenswert, und ein einigermaßen ausgeglichener Haushalt ist wichtig. Da stehen wir heute sehr, sehr viel besser da als damals.
Sebastian Teupe: "Zeit des Geldes. Die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923", Campus Verlag, 336 Seiten, 32 Euro

Die Hyperinflation von 1923: Als Brot Milliarden kostete
Wer noch Ahnen hat, die sich erinnern können, wird vielleicht die Geschichten hören, wie die Menschen einst mit dem Geld, kaum, dass es in der Lohntüte gelandet war, losrasen mussten, um das Brot noch für zehn Milliarden Mark zu bekommen und nicht für 100 Milliarden. Die Preise stiegen in Höhen, die so schwindelerregend waren, dass sie sich heute grafisch nur mit Kunstgriffen darstellen lassen, wie Sebastian Teupe in "Zeit des Geldes" schreibt.
Im November 1923 lag der Preis für ein Roggenbrot bei 233 Milliarden Mark. Bayern, noch sehr von der Landwirtschaft geprägt, war in weiten Teilen weniger betroffen. Die Menschen konnten tauschen. In den Städten wie München aber litten die Bewohner. Eine hohe Staatsverschuldung, massive Reparationsforderungen nach dem verlorenen Krieg, Morde an bekannten Politikern, Vertrauensverlust in die Mark, vermehrtes Gelddrucken: 1923 kam viel zusammen.