"Wir werden Ohnmacht empfinden und Zorn" - Horst Köhlers Rede im Wortlaut

Die vierte Berliner Rede von Horst Köhler wurde mit Spannung erwartet. Der Bundespräsident geißelte die Verantwortlichen der Finanzkrise - zeigte aber auch Chancen auf. Die AZ dokumentiert die Rede in Auszügen.
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"Ich will ihnen eine Geschichte meines Scheiterns berichten." Horst Köhler
AP 2 "Ich will ihnen eine Geschichte meines Scheiterns berichten." Horst Köhler
Bei den Zuhörern fand Horst Köhler viel Zustimmung.
AP 2 Bei den Zuhörern fand Horst Köhler viel Zustimmung.

Die vierte Berliner Rede von Horst Köhler wurde mit Spannung erwartet. Der Bundespräsident geißelte die Verantwortlichen der Finanzkrise - zeigte aber auch Chancen auf. Die AZ dokumentiert die Rede in Auszügen.

HORST KÖHLER Ich will Ihnen eine Geschichte meines Scheiterns berichten. Es war in Prag, im September 2000. Ich war neu im Amt als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds. Mein Ziel war es, den IWF zum Exzellenzzentrum für die Stabilität des internationalen Finanzsystems zu machen.

Die Entwicklung auf den Finanzmärkten bereitete mir Sorgen. Ich konnte die gigantischen Finanzierungsvolumen und überkomplexen Finanzprodukte nicht mehr einordnen. Ich begann, kapitalmarkt-politische Expertise im IWF aufzubauen. Das sahen nicht alle gern.

Viele warnten vor dem Risiko einer Systemkrise

Und ich wunderte mich, dass sich die G7-Staaten nur zögerlich einer Überprüfung ihrer Finanzsektoren unterziehen wollten; solche Überprüfungen waren von den Mitgliedstaaten des Internationalen Währungsfonds 1999 als Lehre aus der Asienkrise beschlossen worden. Viele, die sich auskannten, warnten vor dem wachsenden Risiko einer Systemkrise. Doch in den Hauptstädten der Industriestaaten wurden die Warnungen nicht aufgegriffen: Es fehlte der Wille, das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen.

Jetzt sind die großen Räder gebrochen und wir erleben eine Krise, deren Ausgang das 21. Jahrhundert prägen kann. Ich meine: zum Guten, wenn wir aus Schaden klug werden. Noch aber entfaltet die Rezession sich weiter. Jeder Kontinent ist erfasst. Die Finanzkrise hat blitzschnell durchgeschlagen auf die reale Wirtschaft. Gestern war Deutschland noch Exportweltmeister. Ein stolzer Titel fällt uns heute vor die Füße. Aufträge brechen weg, mit nie dagewesener Geschwindigkeit.

Es ist ein gutes Zeichen, dass die meisten Unternehmen in Deutschland versuchen, Entlassungen zu vermeiden. Sie wissen, dass sie ihre hoch motivierten und gut qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dringend brauchen, wenn sie die Krise überwinden wollen. Wir müssen aber auch ehrlich sein: Viele Unternehmen werden ihr Überleben und damit zugleich Arbeitsplätze nur sichern können, wenn sie sich auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trennen. Wir müssen uns darauf einstellen: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland wird sich wieder deutlich erhöhen.

Die Menschheit sitzt in einem Boot

Die große Chance der Krise besteht darin, dass jetzt alle erkennen können: Keiner kann mehr dauerhaft Vorteil nur für sich schaffen. Die Menschheit sitzt in einem Boot. Und die in einem Boot sitzen, sollen sich helfen. Eigennutz im 21. Jahrhundert heißt: sich umeinander kümmern.

Vor allem wir im Norden müssen umdenken. Auf unserer Erde leben derzeit etwa 6 1/2 Milliarden Menschen. Nur rund 15 Prozent von ihnen leben in Umständen wie wir. Weit über zwei Milliarden Menschen müssen mit zwei Dollar pro Tag auskommen, eine Milliarde sogar nur mit einem Dollar. Wir sollten uns nicht länger einreden, das sei gerecht so. Sicherheit, Wohlstand und Frieden wird es auch in den Industrieländern dauerhaft nur geben, wenn mehr Gerechtigkeit in die Welt kommt

Bundesregierung und Bundestag haben in den vergangenen Monaten Handlungsfähigkeit bewiesen und kurzatmigen Aktionismus vermieden. Ihr Wort hat Gewicht auch im europäischen und internationalen Krisenmanagement. In Deutschland steht unsere Regierung vor schwierigsten Abwägungen und Entscheidungen. Sie betreffen das Wohl und Wehe vieler Menschen. Niemand hat fertige Rezepte. Wir können über unsere konkreten Schritte und die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, keine Sicherheit haben. Aber wir können darauf vertrauen: Die eingeschlagene Richtung stimmt.

Das Ringen um die beste Lösung gehört zur Demokratie. Auch im Vorfeld einer Bundestagswahl gibt es aber keine Beurlaubung von der Regierungsverantwortung. Die Bevölkerung hat gerade in der Krise den Anspruch darauf, dass ihre Regierung geschlossen handelt und Lösungen entwickelt, die auch übermorgen noch tragfähig sind. Die Krise ist keine Kulisse für Schaukämpfe. Sie ist eine Bewährungsprobe für die Demokratie insgesamt.

Bis heute warten wir auf Selbstkritik

Auch angesehene deutsche Bankinstitute haben beim Umgang mit Risiko zunehmend Durchblick und Weitsicht verloren. Das konnte nur geschehen, weil sie den Bezug zu ihrer eigenen Kultur aufgaben: zu dem, was diese Häuser überhaupt erst zu Größe und Bedeutung geführt hatte – Sinn für Geldwertstabilität, Respekt vor dem Sparer und langfristiges Denken. Bis heute warten wir auf eine angemessene Selbstkritik der Verantwortlichen. Von einer angemessenen Selbstbeteiligung für den angerichteten Schaden ganz zu schweigen.

Jetzt führt uns die Krise vor Augen: Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt. Die Finanzmärkte waren Wachstumsmaschinen. Sie liefen lange gut. Deshalb haben wir sie in Ruhe gelassen. Das Ergebnis waren Entgrenzung und Bindungslosigkeit. Jetzt erleben wir, dass es der Markt allein nicht richtet. Es braucht einen starken Staat, der dem Markt Regeln setzt und für ihre Durchsetzung sorgt.

Den Finanzmärkten fehlte eine ordnende Kraft. Sie haben sich den Staaten entzogen. Die Krise zeigt uns: Schrankenlose Freiheit birgt Zerstörung. Der Markt braucht Regeln und Moral.

Die Soziale Marktwirtschaft neu entdecken

Freiheit ist ein Gut, das stark macht. Aber es darf nicht zum Recht des Stärkeren werden. Denn das ist der Haken an der Freiheit: Sie kann in denjenigen, die durch sie satt und stark geworden sind, den Keim der Selbstüberhebung legen. Und die Vorstellung, Freiheit sei auch ohne Verantwortung zu haben. Freiheit ist kein Vorrecht, die besten Plätze für sich selbst zu reservieren.

Gerade die Krise bestätigt den Wert der Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist mehr als eine Wirtschaftsordnung. Sie ist eine Werteordnung. Sie vereinigt Freiheit und Verantwortung zum Nutzen aller. Gegen diese Kultur wurde verstoßen. Lassen Sie uns die kulturelle Leistung der Sozialen Marktwirtschaft neu entdecken. Es steht allen, insbesondere den Akteuren auf den Finanzmärkten, gut an, daraus auch Bescheidenheit abzuleiten und zu lernen.

Wir verschenken das Geld nicht an die Banken. Wir fordern Gegenleistungen in Gestalt von Mitsprache, Zinsen und Mitarbeit bei der Krisenbewältigung. Die Steuerzahler haften mit gewaltigen Summen. Der Staat steht deshalb in der Verantwortung. Auch vorübergehende staatliche Beteiligungen können nicht ausgeschlossen werden. Der Schutz des Privateigentums, das konstitutiv ist für Freiheit und Wohlstand, wird dadurch nicht berührt.

Das Schicksal Afrikas ist entscheidend

Begreifen wir den Kampf gegen Armut und Klimawandel als strategische Aufgaben für alle. Die Industriestaaten tragen als Hauptverursacher des Klimawandels die Verantwortung dafür, dass die Menschen in den Entwicklungsländern am härtesten davon getroffen sind. Der Kampf gegen die Armut und der Kampf gegen den Klimawandel müssen gemeinsam gekämpft werden. Wir brauchen als Weltgemeinschaft ein gemeinsames, verbindendes Ethos.

Mit jahrzehntelangem, industriellem Fischfang hat auch die Europäische Union dazu beigetragen, dass die Küsten vor Westafrika inzwischen stark überfischt sind. Da darf es uns nicht wundern, dass die Fischerboote immer mehr dazu benutzt werden, Flüchtlinge nach Europa zu transportieren. Ich stehe dazu: Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas. Und wir wissen heute: Es wäre ein geringeres Risiko gewesen, eine Eisenbahnlinie quer durch Afrika zu bauen, als in eine angesehene New Yorker Investmentbank zu investieren.

Wir wollen Zufriedenheit und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht länger nur von einem quantitativen “Immer Mehr„ abhängig machen. Was in unserem Land wachsen muss, sind vor allem das Wissen und die Intelligenz, mit der wir unser Leben besser gestalten können. Wir bauen die besten Autos der Welt. Das reicht aber nicht. Wir müssen die besten Autos der Zukunft der Welt bauen. Da gibt es zurzeit einen deutschen Hersteller, der in besonderen Schwierigkeiten steckt. Auch seine Ingenieure sind gut. Mir wird gesagt, sie haben weit in die Zukunft gearbeitet. Darin möchte ich Hoffnung für Opel sehen.

Unsere Verantwortung ist groß

Wir dürfen uns nichts vormachen: Die kommenden Monate werden sehr hart. Auch für uns in Deutschland. Wir werden geprüft werden. Wir werden weiter Namen hören und uns wünschen, der Zusammenhang wäre ein anderer: Märklin, Schiesser, Rosenthal. Wir werden Ohnmacht empfinden, und Hilflosigkeit und Zorn.

Aber es gab auch noch nie eine Zeit, in der unser Schicksal so sehr in unseren eigenen Händen lag wie heute. Wir haben die Chance, Freiheit und Verantwortung in unserer Zeit nachhaltig aneinander zu binden. Die Verantwortung ist groß. Das liegt daran, dass unsere Freiheit so groß ist. Gehen wir sorgsam mit ihr um. Zeigen wir Demut vor der Freiheit. Vor unserer. Und vor der der anderen.

Meine Damen und Herren, schauen Sie sich um in dieser Kirche. Sie spricht zu uns bis heute über das Werk der Zerstörung, das Menschen anrichten können. Aber sie sagt auch: Wir können immer einen neuen Anfang schaffen. Es liegt an uns.

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